Rolf-Dieter Meier

Ernteplanet


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war es doch ein Ausgleich für all die Pein, die man aufgrund der vielen sittenwidrigen Geschäfte erleiden musste, für all das Ungemach, für das man als für schuldig Befundener seinen Kopf hinhalten musste. Die Zeitungen waren schließlich voll von Berichten über die unfähigen Eliten, die unverändert nur die eigenen Taschen und nicht das Wohl der Allgemeinheit im Auge gehabt hatten. Ja, sie machten Igor das Leben schwer, indem sie jedes nur denkbare technische Hilfsmittel einsetzten, um ihr Hab und Gut zu schützen. Eine dieser Verteidigungslinien wurde Igor zum Verhängnis und so machte er erstmalig mit der Staatsgewalt Bekanntschaft. Die ausgesprochene Bewährungsstrafe war wohl auch dem Umstand geschuldet, dass sein Vater am Tag vor der Gerichtsverhandlung gestorben war. Sein Verteidiger nutzte diese Gelegenheit kaltblütig aus und verband den Schicksalsschlag seines Klienten mit den Schäden, den gewisse Herren und Damen angerichtet hatten, und unter denen auch Igor zu leiden hatte. Zum Ende der Verhandlung zeigte Igor, übrigens auf Geheiß seines Anwalts, Reue und der Richter daraufhin Milde. Igors Reue war allerdings, wie zu erwarten, nur von kurzer Dauer. Er borgte sich ein wenig Geld und rüstete sich technisch auf, um seinen Kampf gegen die ungerechte Verteilung des Eigentums wieder aufzunehmen. Tatsächlich konnte er wohl einige Streifzüge erfolgreich abschließen, denn es folgten einige Wochen Aufenthalt in einem Fünf-Sterne-Hotel auf Mallorca. Einerseits beflügelt von dieser kapitalistischen Sause und andererseits gefrustet über den danach wieder eingetretenen Geldmangel, machte er sich also wieder ans Werk. Leider ließ er es dabei an der nötigen Vorsicht fehlen, an der sein Opfer nicht gespart hatte. Diesmal fand er als Wiederholungstäter keine Gnade und durfte für ein paar Monate die Ein-Stern Qualität des Gefängnisses genießen. Kurz nach seiner Entlassung geschah etwas, was man durchaus als Wunder bezeichnen konnte. Der für ihn zuständigen Sachbearbeiterin des Job-Centers war es gelungen, Igor einen Arbeitsplatz zu vermitteln. Ein kleiner Handwerksbetrieb im Sanitärbereich benötigte einen Helfer, der außer Kraft auch ein bisschen Grips besaß. Der Chef, Walter Behrendt, der über eine ausgeprägte soziale Ader verfügte, hatte bereits einige junge Gelegenheitstäter bei sich angestellt, die, von einer Ausnahme abgesehen, unter diesen Bedingungen wieder auf den Pfad der Tugend zurückgefunden hatten. Auch Igor überstand die gesondert vereinbarte Probezeit von einem halben Jahr zur vollsten Zufriedenheit seines Arbeitgebers und man zog in Betracht, Igor eine ordentliche Ausbildung angedeihen zu lassen. Igor war nicht abgeneigt, fühlte er sich nach der langen Zeit als Außenseiter endlich wieder als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Alles schien also seinen geregelten Gang zu gehen, zumindest bis zu der von seinem Arbeitgeber ausgerichteten Weihnachtsfeier. Diese wurde ob ihres familiären Charakters gerühmt, da die Frau des Chefs es sich nämlich nicht nehmen ließ, für die ganze Belegschaft Gänsebraten zuzubereiten. Dies machte der Gattin zwar viel Arbeit, sorgte aber bei den Untergebenen ihres Gatten für gute Stimmung. Insbesondere da alle wussten, dass nach dem fetten Essen zu dem Stoff gegriffen wurde, der bekanntermaßen die Verdauung fördern soll: Alkohol. Und da gab es viel zu verdauen. Jede weitere Flasche förderte zwar die Stimmung, sorgte aber auch für eine immer rustikalere Wortwahl. Zunächst staunend verfolgte der Juniorchef die Ausführungen Igors, der sich in dieser beschwingten Runde befleißigt fühlte, wieder einmal die ungerechte Verteilung des Geldes zu beklagen. Irgendwann hatte die Kapitalistenschelte auch sein umnebeltes Gehirn erreicht und ihn zu dem liebevoll gemeinten Ausspruch „Scheiß Knacki!“ verleitet. Die Antwort kam postwendend: „Scheiß Kapitalist!“ Allerdings beließ es Igor nicht bei einem verbalen Schlagabtausch, sondern ließ seine Rechte folgen, die krachend das Kinn des Juniorchefs traf und diesen in einen tiefen Schlummer versetzte. Die Party war damit schlagartig beendet und die Karriere von Igor als Sanitärinstallateur ebenso, denn trotz aller Beschwichtigungsversuche seines Vaters, der Igor gut leiden konnte und eine Teilschuld bei seinem Sohn sah, beharrte der Juniorchef auf einer sofortigen Entlassung und als Dreingabe auf einer Anzeige wegen Körperverletzung. So musste sich die Justiz erneut mit Igor beschäftigen. Dieser hatte sich hilfesuchend an einen Verein gewandt, der sich der Resozialisierung ehemaliger Strafgefangener verschrieben hatte. Als Mitglied des paritätischen Wohlfahrtsverbandes forderte man wie üblich die Unterstützung der Anwaltskanzlei an, die auch schon bisher recht erfolgreich für den Verband tätig war. So übernahm Kirstin die Verteidigung des Igor Ibramowitsch, der in den Vorgesprächen wenig Einsicht für sein unüberlegtes Handeln zeigte, vielmehr sich damit brüstete, es „diesem Kapitalistenschwein“ ordentlich gezeigt zu haben. Kirstin hegte nun die Hoffnung, dass die lange Zeit bis zur heutigen Gerichtsverhandlung die Gemüter soweit beruhigt hatte, dass zumindest eine kleine Chance bestand, die beiden Streithähne zum Einlenken zu bewegen. Allein, es würde schon eines Wunders bedürfen, Igor vor einem weiteren Gefängnisaufenthalt zu bewahren.

      Kirstin wollte sich Igor vor der Verhandlung noch einmal vornehmen und machte sich deshalb schon einige Zeit vor dem Gerichtstermin auf den Weg. Sie nahm ein Taxi, das sie auf schnellstem Wege zum Amtsgericht brachte. Der Taxifahrer war gut gelaunt und machte einige humorvolle Bemerkungen, über die er allerdings selbst am meisten lachte. Kirstin war in Gedanken mehr bei ihrem Fall, konnte aber nicht umhin, bei einer besonderen Pointe, sofern sie diese mitbekam, herzhaft in das Lachen des Fahrers einzufallen. So war sie in guter Stimmung, als sie das Taxi verließ. Die Sonne, die von einem makellos blauen Himmel herab schien, tat ein Übriges, ihre gute Laune und damit ihren Optimismus zu stärken. Sie betrat das imposante Gebäude durch das mittlere der großen Portale, das zu ihrer Erleichterung bereits geöffnet war, da sie immer Schwierigkeiten hatte, die riesigen Türen zu bewegen. Hinter dem Eingang musste sie sich der obligatorischen Sicherheitskontrolle unterziehen. Nachdem sie diese ohne Probleme hinter sich gebracht hatte, ging sie die beeindruckende große Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sie in einem Besprechungszimmer Igor treffen würde. Da sie etwas früh dran war, besorgte sie sich an einem Kaffeeautomaten noch zwei Cappuccino, der von gar nicht so übler Qualität war. Einer war für Igor bestimmt, in der Hoffnung, dass ihn diese kleine Aufmerksamkeit etwas von seiner Aggressivität nahm.

      Als Kirstin das Besprechungszimmer betrat, saß Igor schon an dem kleinen Tischchen und wandte ihr sein Gesicht zu. Er war von großer Statur, schlank aber muskulös. Sein markantes Gesicht wurde dominiert von einem kräftigen Kinn und grauen Augen. Mit seinen blonden Haaren und den Augenbrauen in gleicher Farbe erinnerte er Kirstin mehr an einen Wikinger als einen Russen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Er begann verschmitzt zu Grinsen, wobei er auf den Kaffeebecher deutete: „Für mich?“ Kirstin nickte und schob den Becher noch ein Stück zu ihm hin. Sie fühlte sich ertappt, er hatte wohl ihren kleinen Bestechungsversuch durchschaut. „Egal“, dachte sie, dann wusste er eben, worauf sie hinauswollte. Vielleicht würde das die Sache erleichtern.

      „Herr Ibramowitsch“, begann sie mit beschwörendem Tonfall, „sie wissen, sie haben sich in eine schwierige Lage gebracht.“

      Bevor sie fortfahren konnte, unterbrach sie Igor: „Sie sehen verdammt gut aus für eine Anwältin.“

      „Lassen sie das, jetzt ist keine Zeit für Komplimente. Wir müssen uns jetzt auf die Verhandlung konzentrieren.“ Kirstin versuchte ihrer Stimme Strenge zu verleihen, was Igor aber nicht davon abhielt, sie unverändert anzugrinsen.

      „Herr Ibramowitsch“, begann sie erneut, „in diesem Fall hängt alles vom Richter ab. Geht er von einem minderschweren Fall aus, weil Alkohol im Spiel war und der Juniorchef sie vorher verbal attackiert hat, kommen sie vielleicht mit einer geringen Geldstrafe oder ein paar Stunden Sozialarbeit davon. Schlimmstenfalls folgt er dem Antrag des Staatsanwalts, der auf Körperverletzung plädiert und sie wandern wieder in den Knast.“

      Igor erweckte den Eindruck, als folgte er den Ausführungen von Kirstin mit größtem Vergnügen. Hatte er zunächst leicht vorgebeugt am Tisch gesessen, lehnte er sich jetzt entspannt zurück, wobei er sie unverwandt betrachtete. Sein ständiges Grinsen irritierte Kirstin, erweckte er doch den Eindruck, als wäre ihm alles völlig egal. Langsam verging ihre bis dahin gute Laune und stattdessen keimte Ärger in ihr hoch. Sie wollte alles tun, ihn vor einer erneuten Haftstrafe zu bewahren und er machte keine Anstalten, sie bei ihren Bemühungen zu unterstützen. Stattdessen schien er das alles, seinem stetigen Grinsen nach zu urteilen, nur lächerlich zu finden. Plötzlich machte er so etwas wie eine abwehrende Handbewegung und beugte sich wieder vor.

      „Machen sie sich mal keine Sorgen, Frau Stendahl, das wird schon. Ich habe das im Gefühl.“

      „Mein Gott, sie haben vielleicht Nerven“, antwortete Kirstin nach