Jenny Kutzner

Vergeben und Vergessen


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genutzt, dienten dazu nun auf tragische Weise. Die angrenzenden Häuserwände wurden neu tapeziert und abertausende Gesichter lächelten den vorbeigehenden Menschen zu. Sie alle stellten ein und dieselbe Frage: Hast du mich gesehen? Für die meisten von ihnen sollte diese Frage unbeantwortet bleiben, nur sehr wenige konnten ihre Liebsten wieder in die Arme schließen. Aber genau der Wunsch, einer dieser Glücklichen zu sein, hielt die Menschen auf den Straßen, ließ sie Plakate kleben und Flyer verteilen, die mitfühlend betrachtet wurden, nur um kurz darauf mit einem Kopfschütteln und einem leisen »Tut mir leid!« ein paar Meter weiter zu den Millionen anderen auf die Straße geworfen zu werden. Es schien ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, trotz seiner eigenen Verluste den Anstand aufzubringen, sich zumindest kurz die Gesichter der Gesuchten anzuschauen.

      Nur Max hatte davon wohl nichts mitbekommen. Er war Ende zwanzig, sah aber bereits viel älter aus. Seine Schuhe, robuste und für dieses Wetter viel zu warme Stiefel, sowie der untere Teil seiner Jeans waren bedeckt mit bereits angetrocknetem Schlamm. Sein ehemals weißes T-Shirt war eine Batik aus unterschiedlich großen und alten Schweißringen auf Brust, Rücken und unter den Armen. Sein Gesicht war von Schweiß, Dreck und der seit Tagen brennenden Sonne gezeichnet und seine grünen Augen, auf die er immer so stolz gewesen war, gruben sich tief in die Augenhöhlen. Nur unter dem Bart, den er früher als gepflegten Drei-Tage-Bart trug, hatte die Sonne noch keinen Schaden anrichten können. In den letzten Tagen hatte er sich kaum um seinen Körper geschert. Aber wer hatte das schon getan? Kurz gesagt, rein optisch hob er sich kaum von der Masse ab. Nur die Art und Weise, wie er durch die Straßen ging, ohne sich die Plakate an den Wänden anzuschauen oder einen Flyer zu nehmen, ohne mitfühlende Blicke oder tröstende Worte, ließ er die Menschen sich teils ungläubig, teils verständnislos nach ihm umdrehen. Es fehlte Max weder an Anstand noch an Mitgefühl. Anfänglich hatte auch er bei dieser Tragödie mitgespielt, nur irgendwann ertrug er es nicht mehr, immer nur den Kopf zu schütteln und er ertrug es auch nicht mehr, immer nur Kopfschütteln auf seine Fragen zu erhalten. Also hatte er damit begonnen die offiziellen Sammelstellen aufzusuchen und die immer länger werdenden Namenslisten durchzugehen, auf der Suche nach diesem einen Namen. Ein Vorname war alles was er hatte, was die ganze Sache nicht gerade vereinfachte.

      Die Sammelstelle war in einer ehemaligen Turnhalle errichtet worden und sie war eine der letzten, die er noch nicht aufgesucht hatte. Genauso zielstrebig wie er an den kauernden, weinenden und suchenden Massen vorbei gelaufen war, trat er nun durch die Tür in eine stickige, düstere Halle. Seine Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an die plötzliche Finsternis gewöhnt hatten. Die Atmosphäre hier war ebenso bedrückend wie überall in der Stadt. Überall weinende Menschen und an den Wänden hingen die gleichen Plakate. Nur dass es hier Klappstühle und Feldbetten gab, die von den vielen freiwilligen Helfern in orangefarbenen Shirts provisorisch aufgestellt wurden. Er ging an den Sitzreihen vorbei zu einem Tisch an der gegenüberliegenden Seite des Einganges. Man hatte dort Infobroschüren, Bibeln und anderes nützliches Zeug ausgelegt, das den Hinterbliebenen dabei helfen sollte mit ihrem Verlust umzugehen. Hinterbliebene - so wurden sie bereits von Freiwilligen, die nach den ersten Meldungen über den Tsunami aus dem ganzen Land herbeiströmten, genannt. Dieses Wort klang endgültig und für die meisten blieb es auch genau das. Der Tisch war es jedoch nicht, der ihn interessierte, sondern vielmehr die Pinnwände, die links und rechts davon hingen. Die linke trug die Überschrift „Überlebende“, unter der die Namen aufgelistet waren von denen, die sich entweder direkt hier gemeldet hatten oder die in einem der Krankenhäuser lagen. Diese Liste ging er zuerst durch – doch nichts. Die rechte Pinnwand trug die Überschrift „Unbekannt“ und im Gegensatz zu der anderen standen dort keine Namen, sondern man hatte Polaroids von bewusstlosen Menschen, mit zum Teil schrecklich verunstalteten Gesichtern aufgehängt. Aber auch diese Wand konnte seine Suche nicht beenden, denn er wusste, was er jetzt zu tun hatte. Sein Blick ging zu einem jungen Mann hinter dem Tisch. Widerstrebend näherte er sich ihm. Er konnte den mitleidigen Blick in seinen Augen und einen kleinen Button auf seiner Brust mit der Aufschrift „Gott ist mit uns!“ erkennen.

      »Ich würde gerne einen Blick auf die Liste werfen.« Der Mann kramte kurz unter dem Tisch und legte dann ein schwarzes Ringbuch vor sich auf den Tisch. Doch bevor Max es sich nehmen konnte, wurde er von ihm am Arm gepackt, mitfühlend und verständnisvoll natürlich. »Heute Abend findet hier ein kleiner Gedenkgottesdienst statt. Vielleicht möchten sie ja kommen. Beten und Gesellschaft können Wunder bewirken.« Während er das sagte, geschahen zwei Dinge. Zum einen legte der junge Helfer Max einen dieser „Gott ist mit uns“- Buttons in die Hand und zum anderen musste sich Max schwer zusammenreißen, um dem Gottesfürchtigen, der noch an Wunder glaubte, keine Hasstirade an den Kopf zu werfen. Er ballte die Hand, in die ihm der Button gelegt worden war zur Faust und nahm mit der anderen das schwarze Ringbuch. Es war schwer und fiel fast auseinander. Man hatte darin weit mehr Seiten hinzugefügt, als es eigentlich hätte tragen sollen. »Wenn sie damit durch sind, lassen sie es einfach liegen. Wir sammeln es dann wieder ein«, rief der junge Helfer ihm hinterher. Max ging zu einer Sitzgruppe aus Klappstühlen, die noch relativ leer war. Er setzte sich, legte das Ringbuch zur Seite und begann mit dem Button in seiner Hand zu jonglieren. Ihm kam der Gedanke, dass es zu einer Art Ritual geworden war und fast augenblicklich schleuderte er ihn weg. Er nahm sich das Buch, klappte es auf und begann die Liste durchzugehen. »Sie sind also auch der Meinung, dass die das Geld für die Buttons lieber in Scotch hätten investieren sollen.« Der Mann, der sich ihm näherte, war vielleicht Anfang sechzig. Er hielt ihm den verhassten Button hin und Max nahm ihn widerwillig zurück. »Ist es ihr Erstes?« Der Mann klopfte dabei auf ein Duplikat des Ringbuchs. Max holte Luft und wollte ihn eigentlich zum Gehen auffordern, stattdessen schüttelte er nur den Kopf. »Meines auch nicht.« Dabei öffnete der Fremde seine verschmutzte Jacke und entblößte darunter sieben verschiedenfarbige Buttons. Er setzte sich neben Max, holte aus seiner Innentasche einen Flachmann hervor und nippte daran. »Ein Vater sollte nicht in einem Buch voller Toter nach seiner Tochter suchen müssen.« Er nahm einen weiteren Schluck aus dem Flachmann. »Und wenn doch, dann zumindest nicht nüchtern.« Nach einem weiteren Schluck reichte er den Flachmann seinem Nachbarn. »Wie heißen sie, mein Junge?« Max zögerte, sowohl mit der Antwort, als auch damit ihm den Flachmann abzunehmen. »Max.« Der Alte nickte. »Ich bin Frank.« Max nahm ihm den Flachmann ab. Doch statt einen Schluck daraus zu nehmen, platzte eine Frage aus ihm heraus, ohne zu wissen, dass er sie überhaupt stellen wollte. »Warum tun sie sich das an?« »Nun ja, ich denke weil eine Wahrheit, die man nicht wahr haben will, nicht zur Lüge wird und weil mit dem Wissen um die Wahrheit der Heilungsprozess beginnt.« Max hatte sich bereits alle möglichen Antworten zurechtgelegt. Hauptsächlich weil er sich diese Frage seit langem selbst stellte und eine Antwort darauf finden musste, um nicht durchzudrehen. Doch mit dieser hatte er nicht gerechnet.

      3.

      Es war bereits über eine Woche verstrichen, seit ich im Krankenhaus aufgewacht war. Ich hatte Dr. Miller erzählt, wie Peter und ich das Flugzeug bestiegen hatten, um uns in Las Vegas das Jawort zu geben. Nachdem ich meine Ausführungen beendet hatte, bestätigte er weder meine Erklärungen, noch widersprach er mir. Er bat mich lediglich um Entschuldigung und um einen kurzen Augenblick Geduld, dann verließ er das Zimmer. Peter, der die ganze Zeit vor dem Fenster gewartet hatte, begann sofort ihn mit Fragen zu bombardieren. Ich konnte von dem Gespräch nichts hören, aber ich konnte es durch die Glasscheibe beobachten. Dr. Miller brauchte mehrere Anläufe, bis er Peter dazu gebracht hatte ihm zuzuhören und während er sprach, schauten sie abwechselnd immer wieder zu mir. Dann begann Peter zu weinen. Dr. Miller drückte tröstend seine Schulter und rief eine Krankenschwester, die ihn stützend wegbrachte. Dann betrat Dr. Miller wieder das Zimmer und als er auf dem Hocker Platz genommen hatte, fing er an zu erzählen. Ich erfuhr, dass ich seit fast zwei Wochen hier war und im Koma gelegen hatte. Er nannte kaum Details, versicherte lediglich, dass es kein Flugzeugabsturz war, der mich ins Krankenhaus gebracht hatte. Er erklärte mir auch, dass es ganz typisch sei, dass Amnesiepatienten sich an traumatische Ereignisse oftmals nicht mehr erinnern könnten. Bei manchen Menschen kehrten die Erinnerungen recht zügig wieder zurück, bei anderen würden sie jedoch ein Leben lang im Verborgenen bleiben. Ich hörte ihm aufmerksam zu, aber: was hatte das nur mit mir zu tun? In den nächsten Tagen ging es mir rasch besser, zumindest körperlich. Trotzdem untersuchten sie mich von Kopf bis Fuß, wobei sie natürlich mehr Wert auf meinen Kopf legten.