Jenny Kutzner

Vergeben und Vergessen


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saß. Schwarze Socken ragten dabei zwischen seinen auf Hochglanz polierten Schuhen und seiner eleganten, sehr teuer wirkenden Anzughose hervor. Sein Haar glänzte und die Pomade darin hielt es streng zurückgekämmt. »Wie fühlen sie sich heute?« Seine Stimme klang freundlich und geduldig. Ich hatte mich im Schneidersitz auf einem der Besucherstühle niedergelassen und schaute in Gedanken versunken durch die herabgelassene Jalousie hinaus in die Welt. »Ich fühle mich traurig und ich bin sauer«, antwortete ich ihm monoton. »Sind sie „sauer“ oder ist es vielleicht doch ein stärkeres Gefühl? Zum Beispiel Wut.« Ich löste meinen Blick von den Jalousien und schaute ihn nüchtern an. »Ist das nicht vollkommen egal?« Ich wartete auf eine Antwort, doch außer dass er sich Notizen machte, geschah nichts. Ich stellte meine Beine zurück auf den Boden und rutschte auf dem Stuhl hin und her, bis ich nur noch auf dem Rand saß. »Von mir aus, dann halt Wut!« Ich ließ mich in den Stuhl zurückfallen und starrte wieder aus dem Fenster. Meine Wangen begannen zu glühen und ein immer größer werdender Kloß schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte nicht schon wieder weinen, schaffte es aber auch nicht die Tränen zurückzuhalten. »Sie dürfen nicht aufgeben. Ihre Amnesie muss kein Dauerzustand sein.«

      »Warum erzählen sie mir nicht einfach was passiert ist?«, platzte es jetzt aus mir heraus. »So funktioniert das nicht.« Seine Stimme klang nüchtern, vielleicht aber auch etwas hilflos. »Wir haben doch schon festgestellt, dass sie die Tatsachen noch nicht akzeptieren wollen.«

      »Das ist ja auch nicht wahr. Ich habe meine Hochzeit nicht vergessen!« Ich machte eine kurze Pause, als ich merkte, dass sich meine Stimme überschlug und fuhr dann etwas ruhiger fort.

      »Ich kann sie nicht vergessen haben! Den schönsten Tag in seinem Leben darf man doch nicht vergessen. Und nur weil Peter mir jetzt diesen rosa Cinderella Ring angesteckt hat…«, ich nahm ihn von meinem Ringfinger und hielt ihn Dr. Rousseau unter die Nase, »…wird es dennoch nicht wahr.«

      Dr. Rousseau schien unbeeindruckt und ich steckte den Plastikring zurück an meinen Finger.

      »Vielleicht sollten wir eine Pause machen. Sie sollten sich ein wenig ausruhen.«

      »Ich will mich nicht ausruhen. Ich will endlich wissen was geschehen ist und vor allem will ich hier nicht mehr länger eingesperrt werden. Warum darf ich nicht fernsehen?« Ich deutete auf die leere Halterung über ihm in der Ecke. »Oder wenigstens Zeitung lesen?«

      »Alles zu seiner Zeit. Jetzt sollten sie sich erst einmal ausruhen.«

      Hatte er mir nicht zugehört? Doch bevor ich noch etwas erwidern konnte kam eine Schwester herein und benachrichtigte Dr. Rousseau über einen Notfall. Er stand auf und eilte in seinem feinen Zwirn der Schwester hinterher, als er sich noch einmal umdrehte. »Legen sie sich etwas hin. Wir machen dann heute Nachmittag weiter.« Damit fiel die Tür ins Schloss und ich war wieder allein. Lediglich das rasselnde Summen der Klimaanlage durchbrach die Stille. Ich war auf mich alleine gestellt und ein erster flüchtiger Blick durch die Glasscheibe, hinaus auf die Station, verriet mir, dass sich zurzeit niemand für mich interessierte. Ich ging auf Zehenspitzen zur Tür und wagte einen zweiten prüfenden Blick, bevor ich die Tür aufmachte und versuchte mich von der Station zu schleichen. Ich hatte wirklich nicht vor den nächsten Kiosk zu überfallen und alle Zeitungen an mich zu bringen. Eigentlich wollte ich nur ein bisschen spazieren gehen und mal andere Gesichter sehen. Weit kam ich allerdings nicht, ohne Nachrichten wahrzunehmen. An der Wand gegenüber dem Aufzug hing ein Fernseher, der schreckliche Bilder von einem überfluteten Gebiet zeigte. Es waren Luftaufnahmen und sie dokumentierten das ganze Ausmaß eines... Mein Kopf fing an zu schmerzen. Ich atmete tief durch und zwang mich weiter zu gehen. Doch es half nichts, schon an der nächsten Ecke holte mich diese Meldung wieder ein. An der Wand hing ein Plakat mit der Aufforderung, den Opfern der Tsunamikatastrophe in L.A. zu helfen. Der Druck in meinem Kopf verwandelte sich in einen grellen Schmerz und ich sackte zu Boden. Ich drückte mir die Hände auf die Augen, weil ich fürchtete sie würden durch den Druck, der sich in meinem Kopf ausbreitete, platzen. Erst als der Schmerz nachließ, nahm ich die Hände wieder runter und öffnete die Augen. Ein unterschwelliges Rauschen drang an meine Ohren und ich schaute mich um. Doch da war nichts, noch nicht einmal das Meer, welches man von dort aus hätte sehen müssen. Ich hatte keine Ahnung woher ich wusste, dass man an dieser Stelle das Meer sehen konnte, aber ich wusste, dass es so war. Das Rauschen wurde immer lauter, bis es sich zu einem ohrenbetäubenden Tosen ausgeweitet hatte. Am Horizont, wo die Sonne bereits im Begriff war unterzugehen und die Welt in ein tiefes Rot tauchte, rollte der Grund für den Lärm auf die Küste zu und auf einmal hörte ich Schreie, entsetzliche Schreie, die mich auf die Füße zwangen. So unaufhaltsam wie das Rauschen setzte die Welle ihren Weg fort. Ich war starr vor Angst und schaute mich nach einem Ausweg um. Die Schreie kamen von Menschen, die sich auf den Dächern der angrenzenden Häuser in Sicherheit gebracht hatten und ich stand hier unten, ganz allein. Die Welle war bereits so nahe gekommen, dass ich sie riechen konnte: eine Mischung aus Algen, Fisch und Moder. Und als ich anfing das Meer auf meinen Lippen zu schmecken, wurde mir übel. Mein gesamtes Blut schien in meine Beine gesackt zu sein und ließ mich wie angewurzelt dastehen. Es war zu spät. Die Welle stand bereits wie eine Wand vor mir. Sie würde mich packen und mit sich reißen. Es gab keinen Ausweg, zumindest nicht für mich. Ich fing an zu schreien, so laut ich nur konnte, doch meine Stimme kam gegen dieses Monstrum nicht an und ich verstummte, als mir bewusst wurde, dass ich gleich meinem Schöpfer gegenübertreten würde. Ich fiel auf die Knie und schloss wieder meine Augen, darauf wartend, dass die Welle mich verschluckte.

      Doch nichts geschah. Als ich mich traute, die Augen wieder zu öffnen, standen etwa ein halbes Dutzend Menschen um mich herum und Dr. Rousseau hielt mich fest in seinen Armen und redete auf mich ein. Nur langsam begann ich zu begreifen. Das war also der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich nicht nur meine eigene Hochzeit vergessen, sondern auch eine der schrecklichsten Katastrophen des Jahrhunderts überlebt hatte. Es war der 18. Juli, als der Tsunami nach einem schweren Seebeben L.A. überrollte und 258.000 Menschen das Leben kostete.

      Es war wirklich hart. Mir fehlten fast drei Wochen meines Lebens, aber ich hatte für mich einen Weg gefunden damit umzugehen. Ich setze Fakten in die Lücken meiner Erinnerungen und akzeptiere sie. Fakt war, unser Flieger landete am 12. Juli um 15:43 Uhr in Las Vegas. Fakt war, ich gab Peter um Punkt 16:00 Uhr am 14. Juli in der „Little White Chapel“ mein Eheversprechen. Fakt ist aber auch, dass ich am 18. Juli um 19:57 Uhr, als die Welle so viel Unheil anrichtete, in L.A. war.

      4.

      Es war noch früh am Abend, als Max nach einem Streit mit Susan, was in letzter Zeit häufiger vorkam, in TJ`s Bar stolperte. Nachdem Susan seinen Rum in den Ausguss gekippt hatte, brauchte er einen Ort, an dem er in Ruhe arbeiten konnte und weiter Alkohol bekam. Er setzte sich an den Tresen und begann damit, seine Unterlagen um sich herum zu drapieren. Es handelte sich um ausgeschnittene Zeitungsartikel, zusammengeheftete Listen mit Namen und eine Straßenkarte, die er direkt vor sich ausbreitete. Er hatte sie bereits mit zahlreichen roten, blauen und grünen Kringeln versehen. Die roten standen für Orte und Straßen in L.A, die er aus seinen Erinnerungen rekonstruiert hatte, die blauen symbolisierten die Krankenhäuser und Auffangstationen, die er bereits abgesucht hatte und die grünen Kringel waren das Ergebnis seiner harten Arbeit der letzten Wochen. Es waren die Krankenhäuser und Adressen, die er aus den zahlreichen Zeitungsartikeln gesammelt hatte und die er besuchen würde, wenn er erst wieder zurück in L.A. war. Doch er war mit seiner Recherche lange noch nicht fertig.

      »Was kann ich dir bringen?«

      Max wurde aus den Gedanken gerissen. »Scotch bitte.«

      Er war früher kein großer Trinker gewesen. Eigentlich trank er eher selten, aber wenn, dann gab es für ihn kein Halten mehr. Auch hatte es für ihn früher nie eine Rolle gespielt, ob es sich um billigen Fusel handelte oder nicht, seit er Frank begegnet war, hatte sich das geändert. Der Scotch, den er in seinen Flachmann abgefüllt hatte, war eindeutig einer von der guten Sorte. Max vermutete, dass Frank ihn für besondere Anlässe gekauft hatte oder er ein Geschenk seiner Tochter war. Auf jeden Fall war er gut gewesen und so beschloss er kurzerhand, sich durch die gesamte Scotch-Riege zu trinken, um wenigstens diesen Tröster wiederzufinden.

      Der Barkeeper hatte das Glas