Jenny Kutzner

Vergeben und Vergessen


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seiner abgewetzten schwarzen Lederjacke holte, links liegen. Max war gerade vollkommen in seine Arbeit versunken, als sich ein Pärchen neben ihn an den Tresen drängte. Der junge Mann wollte gerade Getränke bestellen, als er versehentlich mit der Hand an Max` Glas hängenblieb und es mitsamt den Zeitungsartikeln vom Tresen wischte. Max sprang auf, um seine Zeitungsartikel aus der Pfütze zu fischen und sie an seiner Jeans abzutupfen.

      »Sorry Alter! Zwei Bier und was immer er hatte«, bestellte der junge Mann und wandte sich gleichgültig wieder seiner Freundin zu. Max packte ihn am Kragen seines Shirts und stieß ihn wütend mit dem Rücken gegen den Tresen. Der Barkeeper, der bereits bei dem umgeschütteten Drink in Stellung gegangen war, eilte hinter der Theke hervor und riss Max und den Rempler auseinander.

      »Ich will hier drinnen keinen Ärger!«

      Der junge Kerl löste sich vom Arm des Barkeepers und zupfte sich das Shirt wieder zurecht.

      »Tickst du noch ganz sauber?!«, meldete sich die Freundin des Kerls aus sicherer Entfernung zu Wort.

      Max war in letzter Zeit nicht sonderlich gesprächig. Was hätte er schon sagen sollen – „Es tut mir Leid?“ Es tat ihm nicht Leid! Der Kerl hatte seine Unterlagen versaut. Er raffte wortlos seinen Stapel nasser Papiere zusammen und verließ wortlos TJ´s Bar.

      Doch Max ging nicht. Er musste seine Unterlagen ordnen und dafür sorgen, dass sie nicht noch mehr Schaden nahmen. Er hockte sich mit dem Rücken an die Außenfassade der Bar und breitete vor sich die Straßenkarte aus. Er hatte alles dort hineingelegt. Auch die mit Scotch getränkten Zeitungsartikel, die bereits begonnen hatten ihre Flüssigkeit abzugeben und dabei seine Kringel zu verwischen.

      »Nein, nein, nein!« Er trennte die nassen Blätter voneinander, zog ein Stück seines Pullovers aus dem Ärmel seiner Lederjacke hervor und begann vorsichtig auf der Straßenkarte herumzutupfen, bis er sicher war, den Zerfall seiner Arbeit aufgehalten zu haben. Trotzdem war bereits ein beträchtlicher Schaden entstanden. Ihm war zum Heulen zumute. Ein fast dreißigjähriger Mann hockte auf der Straße vor einer Bar, aus der er gerade rausgeflogen war und betrauerte einen Haufen durchgeweichte Zeitungsartikel, die ihn sowieso kein Stück weiter bringen würden. Er stand auf und beschloss sich auf den Heimweg zu machen. Vielleicht würde er sich sogar bei Susan entschuldigen, falls sie ihm nicht gleich wieder eine Szene machen würde, sobald er zur Tür hereinkam.

      In diesem Augenblick hielt ein Taxi auf der anderen Straßenseite, dem eine junge Frau hinterherlief. Es waren erst die quietschenden Reifen gewesen, die Max` Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, doch dann sah er sie. Ihre Schuhe mit den kleinen Absätzen, die sie größer wirken lassen sollten, klapperten in Eile über den Bürgersteig. Die Frau war vielleicht Mitte zwanzig und blond, wobei ihr langes Haar offen über die schmalen Schultern fiel. Im fahlen Licht der Straßenlaternen konnte Max kaum die Konturen ihres Gesichts erkennen, doch was er sah, ließ ihn sich jetzt in Bewegung setzen – nicht etwa nach Hause, sondern über die Straße zu dem Taxi oder besser gesagt auf die junge Frau zu, die bereits kurz davor war einzusteigen und davonzufahren. Er beschleunigte seinen Schritt und ließ seine Unterlagen fallen, um mit den freien Armen seinem Körper den Schwung zu verleihen, um sie noch rechtzeitig zu erreichen. Er wollte nach ihr rufen aber seine Zunge gehorchte ihm nicht. Sie hatte bereits die Tür aufgemacht und war gerade dabei einzusteigen, als Max sie erreichte und sie stürmisch an der Schulter zu sich herumzog. Die Frau verlor bei diesem unerwarteten Manöver das Gleichgewicht und stürzte mit Max zu Boden, der ungeschickt auf ihr landete. Sie fing nach dem ersten Schock an zu schreien und trommelte auf seine Schultern und sein Gesicht ein. Max musste ihre Arme zu Boden drücken.

      »Ich bin´s, ich bin´s doch nur. Ich hab dich überall gesucht! Mein Gott!«, presste er schwer atmend hervor. Er wartete darauf, dass sie ihn endlich anschauen würde und in dem Augenblick, als er von dem übergewichtigen Taxifahrer von ihr weggerissen wurde, tat sie es auch. Er konnte gerade noch erkennen, dass ihre Augen braun und nicht blau waren, bevor der Taxifahrer es schaffte, ihn mit dem Gesicht nach unten und dem Arm zum Schulterblatt hochgezogen, auf dem Bürgersteig festzusetzen.

      5.

      Eine weitere Woche verging bis Dr. Rousseau beschloss, dass ich stabil genug sei, um entlassen zu werden und Peter mich nach Hause brachte. Es war ein seltsames Gefühl, diese Wohnung nach einem Monat wieder zu betreten. Peter bestand darauf mich über die Schwelle zu tragen. Ich sträubte mich, aber er ließ es sich nicht nehmen. Genauso wenig, wie er es sich im Krankenhaus nicht hatte nehmen lassen, mir als Ersatz für den verlorenen Ehering diesen Plastikring aus dem Kaugummiautomaten an den Finger zu stecken. Es schien ihm wirklich wichtig zu sein, also ließ ich ihn. Es half schließlich auch mir dabei, mich damit anzufreunden tatsächlich eine verheiratete Frau zu sein.

      Unsere Wohnung war nicht sonderlich groß. Eigentlich eine ziemliche Untertreibung, sie war wirklich winzig. Doch es war unser Heim und für uns zwei war sie perfekt. Doch als er mich, einen Monat nach unserer Hochzeit, über die Schwelle trug, war es nicht, als würde ich nach Hause kommen. Das wohlige Gefühl auf das ich gehofft hatte, wollte sich einfach nicht einstellen. Ich redete mir ein, dass es daran lag, dass auch Peter im letzten Monat kaum Zeit in der Wohnung verbracht hatte. Wenn er nicht arbeitete, war er bei mir im Krankenhaus gewesen. Es war kalt, eine dicke staubige Schicht hatte sich auf die Möbel gelegt und die Pflanzen ließen traurig die Blätter hängen. In jedem Fall war es nicht mehr das Heim, das ich so hoffnungsvoll mit Peter verlassen hatte. Gerade das, was ich so an ihr geliebt hatte, die unweigerliche Nähe zu Peter, ließ mich nun nur noch erschaudern.

      Ich fühlte mich schrecklich. Schließlich war er mein Mann. Ich liebte ihn doch und vor allem liebte er mich. In den darauffolgenden wöchentlichen Sitzungen bei Dr. Rousseau sprach ich meine Probleme mit Peter an. Dr. Rousseau beruhigte mich damit, dass meine Gefühle vollkommen normal seien und dass alles wie früher werden würde, sobald mein Verstand begriff, dass Peter keine Schuld an meiner Amnesie hatte. Also versuchte ich diese Gefühle zu verdrängen, genau wie meine Erinnerungen.

      Damals bezeichnete ich meine Situation ein Stück weit sogar als Glück und war dankbar, dass mir die Erinnerungen an die Katastrophe erspart blieben. Besonders nach dem Erlebnis im Krankenhaus, als mich die erste Erinnerung heimgesucht hatte, konnte ich gut und gerne darauf verzichten.

      Nachdem mich Peter nach Hause gebracht hatte, ließ ich das Thema ruhen. Wir redeten nicht mehr darüber und einige Wochen ging das auch gut. Peter hatte mich überredet eine Auszeit zu nehmen. Er meinte, dass unsere Kollegen mir wohl Löcher in den Bauch fragen würden und dass dann alles wieder hochkommen würde. Also blieb ich zu Hause und ging selbst Freunden und Bekannten aus dem Weg. Peter half mir dabei und wimmelte unsere Freunde bereits an der Haustür ab, wenn sie dann nach unzähligen unbeantworteten Anrufen vorbeikamen. Nach und nach verschwanden sogar die täglichen Berichterstattungen aus den Medien, während mir langsam aber sicher die Decke auf den Kopf fiel. Anfangs versuchte ich unsere Wohnung neu einzurichten, doch egal was ich auch unternahm, das Gefühl von Heimat wollte einfach nicht zurückkommen. Also gab ich es schließlich auf. Ich wollte nur mein altes Leben wieder. Ich wollte wieder arbeiten, recherchieren, Interviews führen und vor allem wollte ich wieder schreiben. Also holte ich nach Wochen der Abstinenz meinen Rechner wieder hervor. Der Akku war vollkommen leer und es dauerte eine Weile bis er hochfuhr. Wie früher, wollte ich meine Emails checken – der Posteingang musste mittlerweile überquellen – doch eigenartigerweise ließ sich mein Account nicht öffnen. Wahrscheinlich hatte ich einen Fehler bei der Anmeldung gemacht, immerhin hatte ich die Anmeldedaten eine ganze Zeit schon nicht mehr benutzt. Gerade als ich es erneut versuchen wollte, kam Peter aufgeregt durch die Tür. Er erzählte mir, dass er einen neuen Job als Chefredakteur in einer anderen Stadt angenommen hatte. Niemand würde uns kennen. Wir würden von vorne anfangen können. Er hatte sogar schon ein Haus für uns gefunden. Es war bereits alles geregelt. Wir mussten nur noch unterschreiben, und das taten wir auch. Ich war dankbar aus unserer alten Wohnung rauszukommen und nahm sogar hin, dass meine Karriere noch etwas länger auf Eis liegen würde. Dafür bot das neue Haus ausreichend Platz, um Peter aus dem Weg zu gehen, denn entgegen Dr. Rousseaus Meinung wurde es mit Peter kein bisschen besser. Im Gegenteil, es wurde immer schlimmer. Wir hatten uns verändert. Der 18. Juli hatte uns verändert. Peter versuchte nun jede Sekunde