nicht nur Bretter und Balken. Nein. Holz im Sinne von Spitzenmustern, Zinnen, Türmchen, gedrehten Wunderwerken der Tischlerkunst. Hölzerne Dachrinnen mit Adlerköpfen standen weit über den Bau hinaus. Unter jeder hatte das herabstürzende Regenwasser tiefe, steinige Gruben hinterlassen. Eine Treppe führte zur Türe. Hinter den Fenstern hingen alte Spitzen, kein Kaufhaustand, Echtes. Ein Vorhang bewegte sich. Aha, die Neugier hinter dem Schutz! Da war jemand, der nicht gesehen werden wollte. Ezra schaute sich um, aber zwischen den Häusern war kein Mensch. Ein wenig unschlüssig blieb er stehen. Was wollte er da eigentlich?
Er wollte hinein. Wer baute so teure Anwesen in solcher Höhe? Wer schuf hier statt Almhütten Schlösser?
Müde Wandersmänner konnten um Wasser, Milch und Zimmer bitten. Wollte er das? Ja, er wollte, denn er hatte nicht die geringste Lust, gleich wieder abzusteigen. Sein Knöchel fühlte sich nicht gut an. Er wünschte sich, am Berg zu schlafen. Also klopfte er beherzt.
Es rührte sich gar nichts. Ezra lauschte auf das Scharren eines Fußes, ein Wort, ein Schlüsselklirren, aber es war absolut still. Nichts von draußen. Nichts von drinnen. Die hinter dem Vorhang wollte ihn nicht! Vielleicht war sie behindert, konnte nicht zur Türe gehen? Vorsichtig drückte er die Klinke nieder – kein Einlass. Es war zugeschlossen.
Es gab noch eine kleine Holztüre rückwärts, die war auch verschlossen.
Er sah zu den anderen Häusern hin. Da war eines kaisergelb gestrichen, barock wie ein Jagdschloss. Dann ein rotes, das erinnerte ihn an eine Fabrik, und in einiger Entfernung, bei der saftig grünen Wiese, eine Häusergruppe, die schien um einen Hof gebaut, mit Kreuzgängen entlang der Blöcke. Es sah ein wenig aus wie ein Kloster. Er wanderte im Kreis zwischen den Gebäuden. In den Kreuzgängen hingen Bilder wie Kreuzwegstationen, dazwischen Türen, auch ein Fenster. Jenseits des kleinen Sees, ein Stückchen tiefer, lag eine Kapelle. Er konnte sie sehen, stand aber gerade vor einem Berg Pferdedung. Ein sauberer Kegel von Maschinen, zusammengetragen, ein perfekter Kegel. Es roch nach Pferd, aber er konnte keines sehen.
Da war niemand. Kein Mensch, kein Tier. Keiner konnte ihm helfen, wenn er hier verblutete. In Selbstmitleid zerflossen blickte er an sich hinunter und registrierte, dass Blut seinen linken Schuh verklebte.
Der bewegte Vorhang im ersten Haus ließ ihn denken, dass sich doch jemand versteckte. Spürte er Augen im Rücken? Fühlte er sich beobachtet? Genau genommen spürte er nichts dergleichen. Die Sonne spürte er, die war noch warm jetzt im August. Hunger spürte er. Er hatte noch ein Stück Käse in einem der Hosensäcke. Der „Weiher“ lag ganz still in der späten Nachmittagssonne.
Ezra ging um den Weiher zur Kapelle und schaute in den kleinen Raum. Er sah eine Mutter Gottes mit abgeschlagener Nase. Das Jesuskind saß auf ihrem Knie und hatte einen verrutschten Heiligenschein aus Golddraht.
Aber was hatte sie da im Arm?
In ihrem Arm lag etwas wie ein zweites Baby. Es war rau und in schmutzig schwarze Bandagen gewickelt, statt der üblichen weißen Tücher, eine kleine schwarze Mumie. Kein lächelndes Babygesicht, sondern eine kleiner Totenkopf mit der Maske eines Teufels. Es sah aus, als hätte Maria auch einen Teufel geboren, dem sie nun die Brust reichen musste. Ezra hielt sich selbst für aufgeklärt, aber der Anblick erzeugte einen kalten Strom auf seiner Haut, die sich in kleine Wellen faltete. Was war das da? Was war hier geschehen? Vier so kostbare, gepflegte Häuser und keiner da? Als ob die Pest oder der Krieg alle Bewohner ausgerottet hätte. Und die Madonnen hier hatten Teufel geboren?
Immer neugieriger wurde er auf die Geschichte. Wieso stellte einer so kostbare Häuser hin und bewohnte sie dann nicht? Und was sollte dieses Teufelsbild im Arm der Mutter Gottes?
Er wanderte zum Wasser und setzte sich an den Rand. Vorsichtig zog er den blutigen Schuh vom Fuß und schälte dann auch den Socken ab. Das Wasser war klar und sehr, sehr kalt und holte ihn von der Madonna zurück in diesen seltsam mystischen Häusergarten. Er wartete, dass die Pferde von der Weide kamen, oder die Beobachterin – sein Vorurteil, es wäre eine Frau – ihren Vorhangplatz verließ. Dass irgendjemand aus einem der Häuser trat. Still wie eine Fata Morgana war der Ort – Kostbarkeiten zum Wohnen ohne Menschen drin. Schließlich wurde es dämmrig und damit empfindlich kalt. Jetzt war der Moment der Wahrheit gekommen. Wenn sich jemand nicht sprechen lassen wollte, musste er bzw. sie immerhin Licht aufdrehen. Doch da war kein Licht. Die Häuser schlossen die Augen und gingen mit der Sonne schlafen.
ABEND
Er hatte bereits den Regenschutz aus seinem Rucksack geholt, denn der kleine See kräuselte sich nun, und er überlegte das erste Mal ernsthaft, wie er die Nacht angenehm verbringen konnte.
Wenn er etwas gelernt hatte, so war es, Schlösser aufzukriegen. So machte er sich auf, um passendes Werkzeug für den Einbruch zu suchen. Er würde diese fremden Häuser für sich erobern, und wenn es nur für eine Nacht war.
Hände und Füße tasteten in der Dämmerung nach einem Nagel. Rund um den Bagger und im Hof. Das brauchte er für einen ordentlichen Einbruch. Seine Tante Rena hatte zu seinem Lernprozess in Sachen Schlösser nicht unwesentlich beigetragen. Sie hatte die Gewohnheit, interessante Dinge in Kästen zu sperren und laut und deutlich zu sagen: „Lieber Ezra, das ist auf keinen Fall etwas für dich.“ So sah er sich genötigt, einzubrechen, ein Übungsprogramm seiner Kindheit.
Glucksende Heiterkeit kam mit der Erinnerung: Tante Rena hatte mit einer Zeitschrift vor seiner Nase gewedelt, auf dem Titelblatt ein nacktes Mädchen, das schenkte ihm jenen Blick, den sie und der Fotograf für ein Sexversprechen hielten, eine Aufforderung, sich den Möglichkeiten sexueller Freude im Blattinneren hinzugeben, damals eine wesentliche Beschäftigung für Ezra. „Das“, so sagte Tante Rena, „ist nichts für dich“, und sperrte die begehrten Bilder in den Küchenkasten. Ezra holte damals das erste Mal den Schraubenzieher, um die Rückwand abzuschrauben.
Doch diese Komplikationen fanden ein Ende, als Wolfgang in sein Leben trat.
Wolfgang war das Kind, gegen das alle Eltern Vorbehalte hatten. Mutter und Tante Rena erklärten ihm lang und breit, dass Wolfgang keinesfalls ein Umgang für ihn sei. Die Familie von Wolfgang - vor allem der Vater - sei - ein Naserümpfen von beiden - sehr zweifelhaft. Das bewirkte, dass Ezra am nächsten Tag die Nähe von Wolfgang suchte und fand. Es brauchte nur einige Großzügigkeiten, und Wolfi war sein Freund. Wolfi war jedes Bonbon, jedes Taschenmesser, jedes Päckchen Spielkarten wert, denn sein Vater konnte Schlösser knacken, und Wolfgang hatte so Zugang zu Möglichkeiten, von denen Ezra immer geträumt hatte.
Er fand hinter dem Jagdschloss auf der Erde einen großen Nagel. Es war schon sehr dunkel. Er musste ihn mehr fühlen, als er ihn sah. Mit einem Stein klopfte er ihn in die richtige Form. Die Entscheidung traf er schnell. Er ging zu dem Haus, das er als erstes berührt hatte, und es dauerte nicht lange, so hatte er die kleine Türe an der Hangseite offen.
Vor ihm lag eine düstere Halle. Falls ein Mensch da war, würde er ihn oder sie gleich treffen. Er tastete nach dem Lichtschalter – wahrscheinlich war der Strom abgeschaltet.
Aber es wurde Licht. Über ihm erstrahlte ein mächtiger Lüster mit vielen Lampen und Elchgeweih. Ein leeres Kaminloch, tote Reste eines Hirsches darüber. Eine schöne breite Holztreppe wand sich in den ersten Stock. Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht allein zu sein. Es bewegte sich nicht wirklich etwas, aber war da nicht gerade jemand nach oben gelaufen?
Er hatte den Eindruck einer Gestalt auf dem Weg in den ersten Stock.
Er schaute hinauf, konnte aber keinen über der Balustrade