hinter dem Hügel ein großer Ort mit einer mächtigen Kirche war. Völlig vergessend, dass er dieses Haus nur heimlich bewohnte, rannte er über die sonnige Wiese. Die Türe ließ er weit offen. Er rannte an dem Teich und der Kapelle vorbei und auf den Hügel hinauf, der ihm den Blick verdeckte. Big Bens Ton war inzwischen leise brummend verklungen.
Er blickte eine Steinhalde hinunter, von einem Ort keine Spur. Hier stand nur die kleine Kapelle mit der Gottesmutter, die zwei seltsame Kinder zu betreuen hatte. Wo war Big Ben?
Er wanderte am See entlang, tief in verwirrenden Gedanken. Dann legte er die Hand auf die rote Haut der Fabrik. Vibrierte die noch? War die gewaltige Glocke in dem Turm? Um die Ecke fand er eine sehr kleine, beschlagene Türe. Der Nagel half. Er erwartete hinter der Türe einen Vorraum oder etwas Derartiges anzutreffen. Da umgab ihn plötzlich blendendes Weiß. Der Raum erinnerte innen an eine weiße Kirche. In der Höhe des ersten Stockes lief eine Galerie, geschützt durch ein weißes Gitter. Die Lichtstrahlen fielen in Bündeln durch die Luken auf der Ostseite, sie trafen weiße Flächen. Aber keine Glocke war zu sehen.
Die ungewöhnliche Anlage berührte ihn. Es fühlte sich an, als ob der Raum auf etwas hoffte. „Ein unbeschriebenes Blatt“, fiel ihm ein, hier musste etwas geschehen, etwas hineingetragen werden, das noch nicht da war. Der Raum war in Erwartung. Er verließ den Platz neben der Türe und ging fast andächtig weiter. Dieser Raum war schön, still und sehr leer – er lebte nur, wenn ein Geist Form annahm. Vielleicht eine weiße Frau? Dieses Haus war ein Rahmen, derzeit nur ein Rahmen für ein Bild, das fehlte. Keine Jacke über den Sesseln, kein Taschentuch auf der Erde, ungebrochenes, nacktes Weiß. Auf einem weißen Tisch lag ein weißes Blatt Papier. Ein Anhaltspunkt?
Er sah eine große Kinderschrift, fest eingegraben mit Kanten und Ecken: „ Ich erwarte von dir, dass du mir klar sagst, was ich tun muss, denn es muss etwas getan werden, nachdem dieses Grauenhafte passiert ist. Wir mussten es geschehen lassen, und jetzt muss Klarheit geschaffen werden.“
Häuser werden von Geistern bewohnt; dieser war zornig und bestimmt, nach einem grauenhaften Erlebnis. Geister schleichen nicht nur hauchzart durch die Räume, sie sind auch zornig, fordernd.
Geister findet man nicht auf Friedhöfen, sondern dort, wo sie zuletzt gelebt haben. Sie kommen manchmal aus den Kissen, sitzen auf den Sesseln und tun, was sie immer getan haben. Sie lesen ihre eigenen Tagebücher immer und immer wieder. Dieser Geist hier war zutiefst erschrocken. Das Entsetzen war noch da, im Papier, im Raum, in den Kissenbezügen und sicher auch in den Spiegeln. Manch ein Geist erscheint im Silberglas, sonst ist er nicht zu sehen…
Ezra sah einen Spiegel am Ende des Raumes. Wenn er hineinschaute, würde der Geist hinter ihm stehen. Dort im Glas nimmt Form an, wer sonst keine hat.
Er hatte es immer geliebt, blind Entfernungen richtig zu schätzen. Er schritt schnell, mit geschlossenen Augen, stand davor, zog vorsichtig die Lider hoch und sah - nichts. Dieser Spiegel hatte nie gedient. Er war vollkommen blind. Die Fläche, gleißend weiß, gab kein Bild.
Häuser ohne Spiegel gab es nicht. Wo waren die Spiegel dieses Hauses? Und wo war die Riesenglocke? Er wollte die zornige, erschrockene, weiße Frau finden, und die mächtige Glocke. Die einzige Türe führte in den Turm. Er erwartete, das bronzene, kreisrunde Maul über sich zu sehen. Aber dort stieg nur ein weißes Stiegenhaus in die Höhe. Keine Glocke, über ihm war der leere Himmel, eine Glasdecke.
Drei Türen führten in zwei kleine, leere Zimmer und ein Bad, alles völlig weiß. Dort war kein Spiegel, nur leere Wand über dem Waschbecken. Er stieg hinauf. Im ersten Stock, der Raum war ziemlich groß. Alles ohne Schmuck und ohne Leben. Keine Handtücher, kein Mistkübel und kein Spiegel.
Langsam ging er ins Stiegenhaus zurück. Die riesigen Fabrikfenster fingen die Sonne ein, es fühlte sich warm an hinter dem Glas. Weil er vom Turm aus alle vier Häuser sehen konnte, blickte er über seine Ländereien, als beim Jagdschloss eine dunkle Gestalt hinter der Ecke verschwand. Also doch! Jetzt hatte er sie! War das der Geist oder bloß die Frau mit den Schlüsseln?
Er stürmte aus der „Fabrik“ und rannte hinüber. Die erste Ecke. Er blieb stehen. Vorsicht! Langsam weiter, er wollte ihr nicht einfach gegenüberstehen, nach einer Ecke. Schließlich erreichte er den Innenhof mit dem Dunghaufen, da war sie nicht mehr. Er ging zu der kleinen Türe. Die war abgesperrt. Er wusste, dass er nicht zugesperrt hatte. Er hatte offen gelassen. Jetzt war aber eindeutig abgesperrt. Nein, die Türe klemmte nicht, sie war verschlossen. Wo konnte diese Person hingegangen sein? Das nächste Anwesen war die Kloster-Gruppe. Er lief einen Wiesenweg entlang. Der Eindruck eines Klosters war stark, wegen der gemalten Kreuzwegstationen in den Arkaden. Aber nein, das war was ganz Anderes! Während er die Bilder anschauen wollte, fiel ihm ein, dass die Frau ja von innen zugesperrt haben konnte, also im Haus war. Hier war sie – er - jedenfalls nicht.
War es gut, diese „Frau“ zu treffen? In dem Augenblick, wo er sich zu erkennen gab, konnte er keine abenteuerlichen Forschungstouren mehr unternehmen. Das war ein Verlust. Lieber keine Erklärung, keine Frage, lieber selbst die Antwort finden. Er schaute das Jagdschloss unsicher an und dann Haus 1, dort brannte kein Licht mehr.
MITTAG
Langsam ging er zurück. Fast erwartete er, die Türe wieder geschlossen zu finden, aber sie war weit offen und niemand da. Das Buch lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Habe schon wieder abgenommen – stand da – Ich frag mich, wo das alles hinrutscht. Jetzt habe ich nur mehr 58 kg. Dabei soll Alkohol angeblich nuuuur Kalorien haben – ich sollte fett und rot davon werden. Esse gut, bin praktisch nie nüchtern und meine Haut hängt um mich rum wie ein leerer Sack.
Tollkirschen essen ist komisch, man sieht schlecht drauf.
Dann folgte ein sehr langes Rezept über Wildpastete in Blätterteig. Vom Großteil der Kräuter hatte Ezra noch nie gehört. Es klang für ihn wie ein Geheimrezept zum Einbalsamieren von Mumien. Er nahm den Wein in kleinen Schlucken, er schmeckte schwer und ölig, sündig verlockend. Die zweite Person hatte wieder Einzug in seinen Körper gehalten. Sie liebte roten Wein, wahrscheinlich schmeckte er deswegen. Seine Muskeln fühlten sich warm und träge an, seine Fantasie projizierte auf den Alkoholnebel bunte Bilder.
Jetzt kann ich es nicht mehr lange aufschieben- mir geht es immer schlechter stand da. Was konnte sie nicht aufschieben? Aber das stand nicht da.
Ein Rezept für Truthahn gefüllt mit Preiselbeeren, Semmel, Wein und Wild. Und dann stand da:
Ich sehe, dass Hela in einer schwierigen Situation steckt – kann ihr sowieso nicht helfen, jeder muss seinen Kram alleine ausbaden. Die Gesellschaft macht sich’s Leben echt schwer. Fritz will von nichts was wissen, und Wolfram spinnt. Die drei Mädchen machen Stress.
Da gab es drei Mädchen und einen Fritz und einen Wolfram, die alle wahrscheinlich in einem der Häuser lebten.
Er las weiter.
Alma hat mir einen Feldstecher geschenkt.
Raffael hat mir extra Wildenten vom Staubecken gebracht. Schwört, dass er fett drauf wird. Raffa ist großartig, aber kurzsichtig, frag mich ob er Hela oder Hela ihn ruinieren wird? Vielleicht erschießt die Ziege alle beide.