Orgie in Rot und Gold. Möbel im nachgestrickten Renaissancestil, ein bisschen auch Barock, sahen ihm und seiner Furcht ungeduldig und leicht gereizt zu. Reich geschnitzt waren die Möbel, sie wirkten nervös. Es war an nichts gespart worden. Vor allem nicht an Mustern. Diese Pracht nahm ihm irgendwie die Luft zum Atmen. Ein viel zu großer Luster, wie aus einer Hotelhalle, mächtig, birnenförmig und sehr golden, hing dicht über dem geschnitzten Tisch, so dass nur wenig Platz über der Platte blieb, und die Tapete ließ keinen Zentimeter des Raumes ungemustert. Ein offener Kamin, umkränzt von einer steinernen Rosenranke, hatte kaum Platz. An der Decke waren Stuckornamente, und eigentlich war der Raum für dieses Massenaufgebot an Farbe, Form und Ornament viel zu klein. In der Vielfalt erstarrt, fühlte er sich von fremden Gedanken eingekreist, die hektisch auf ihn einredeten, aber er konnte nicht verstehen. Es war zu viel. Hörte er Schritte? Atmete jemand? Das Zimmer erzählte mühselige Geschichten. Ein gefesselter Besucher musste zuhören, durfte nicht aufstehen und gehen. Hier hatten Freiheit, Luft und auch der Raum jedes Recht gegen das Ornament verloren.
Wer bitte machte so ein Zimmer? Ezra wollte dringend wieder raus. Als er die Türe in den Gang öffnete, ging das Licht wieder an und löste prompt eine neuerliche heiße Krise in seinem Bauchraum aus. Die Räume nach vorne hinaus waren ihm zu unsicher, man konnte ihn womöglich von Haus 1 sehen. So wanderte er in den anderen Seitenflügel - in die Stallungen.
Dort war ein Wohnsalon für Pferde. Der Vollmond schien inzwischen hell durchs Fenster. Nicht überall war der Boden betoniert. Es gab Stellen mit nacktem Lehm, da konnte man Abdrücke von Hufeisen erahnen. Untertags kam Licht durch die hohen Fenstertüren. Futterkrippen aus Holz, geschnitzt mit runden Kanten und seidig glänzenden Flächen, durch den Gebrauch poliert. Glänzende Holzteile trennten eine Box von der nächsten. Ezra sah förmlich die samtweichen Nasen darüber streichen, die glänzenden Leiber an ihnen entlang reiben. Es war kein Tier da, aber der Raum atmete Pferd. Wo waren sie? Auf der Weide? So vornehme Pferde konnten doch nicht nachts im Freien bleiben. Er zählte sechs Plätze. Als er eine Krippe berührte, spürte er Staub – sie waren nirgendwo.
NACHT
In der Ecke war ein großer Strohhaufen aufgeschichtet. Er roch feucht und ein wenig nach Alkohol. Am Ende des Raumes an der Wand hingen Sättel und Zaumzeuge und Pferdedecken. Er nahm sich eine, breitete sie über das Stroh und kletterte zufrieden in seinen Schlafsack. Genau richtig. Falls ihn einer erwischte, demonstrierte er Bescheidenheit. Er schlief bei den Pferden, nicht anmaßend im Bett des Bewohners. „Wer hat in meinem Bettchen geschlafen? Niemand!“ Von seinem Schlafplatz konnte er das erste Haus sehen. „Sein“ Licht brannte noch, genauso wie er es verlassen hatte. Der mit der Schrottflinte konnte lange warten! Ein kurzes Gefecht zwischen Beunruhigung und Zufriedenheit, und Ezra schlief.
Im Traum kam ein „Leintuchgeist“ auf ihn zu. Ezra war sich voll bewusst, dass es sich um einen Leintuchgeist handelte. Als Kind hatte er erkannt, dass Tiere in Gruppen und Ordnungen eingereiht wurden, und er fand es daher richtig, dass man das mit den vielen Geistern auch tat. Leintuchgeister schwebten unter einem Leintuch, hatten zwei schwarze Augenlöcher, und dieser Spezielle hatte auch Füße. Die steckten in langen schmalen Schuhen, etwa einen Meter lang und schwarz mit einer schwarzen Quaste an der Spitze. Es waren Schnürschuhe und über dem rechten Knöchel hatte er eine rote Wunde. Er hatte etwas wie einen breiten Zylinder auf dem Kopf und im Arm hielt er schwarze Babies mit runden Augenlöchern. Sie erinnerten an das schwarze Baby der Madonna. Es war sehr beunruhigend. Alkoholische Hitze stieg hoch. Angst wickelte ihn ein.
Mit heiserer Stimme sagte der Leintuchgeist mit Schuhen: „Komm her zu mir“. Ezra wollte nichts wie weg. Aber seine Füße konnten sich nur ganz schwer und langsam bewegen, er kämpfte wie in zäher Masse steckend und konnte mit aller Kraft nur zentimeterweise seinen Fuß vorwärts bringen. Eine schwarze Knochenhand kroch unter dem Leintuch vor und bewegte sich auf ihn zu. Der Geist hatte drei Hände. Zwei hielten die Babies und eine langte nach ihm. Die Panik verteilte sich brennend im ganzen Körper. Da beschloss er, aufzuwachen. Er drückte fest die Augen zu und wusste, davon wurde er aus diesem furchtbaren Land hinausgeschwemmt und meist in sein Bett. Manchmal auch in ein anderes Land. Alles war besser als der Geist, der nach ihm griff. Er wachte auf, den Geruch von Pferd und Alkohol in der Nase. Es war schon hell.
Er rollte von seinem Strohhaufen und ging ans Fenster. Die Gipfel der Berge im Westen waren goldfarben. Sonst lag alles ruhig. Es war also ziemlich früh. Er sah zu dem geschnitzten Haus hinüber. Dort brannte „sein“ Licht unverändert. Das konnte doch wohl nicht sein! Er war vor einem knarrenden Balken geflüchtet.
MORGEN
Nun schien er hier der Boss zu sein, nicht der Gejagte. Er war allein, bis auf den Geist einer ermordeten Frau im ersten Stock von Haus 1.
Er ging über den Hof zu der Häusergruppe in der saftig grünen Wiese. Diese Gebäude waren niedrig und breit, mit tief herabgezogenen Dächern. Dick und beschaulich schliefen sie unter ihren gewaltigen Hüten in einer kleinen Senke.
Wie Gott wollte er seinen neuen Besitz benennen. Er gab der Häusergruppe den Namen „das Kloster“. Wo er geschlafen hatte, war das „Jagdschloss“. Das vierte Gebäude aus rotem Backstein nannte er „Fabrik“. Es glich aber auch einer missratenen Kirche. Auf einer Schmalseite erhob sich ein wuchtiger Turm, drei Stockwerke hoch, mit Kupferdach. Er konnte keine Türe sehen. Noch schlaftrunken machte er sich auf, in der Hoffnung auf einen Menschen, der ihm die Sache erklären konnte. Aber er plante gleichzeitig die Erforschung allein. Herr über vier prachtvolle Häuser auf Zeit. Er fühlte sich wie ein mächtiger König, der zwischen seinen Schlössern wählen konnte.
Gerade da schrumpfte seine Welt auf einen Ort zwischen Brustbein und Nabel. Sein Zentrum war in dem Moment ein sehnsüchtiges schwarzes Loch, das alles verschlingen würde. Jetzt wusste er, wie das mit der „Mitte“ war. Du musst deine Mitte suchen, sagten sie ihm in den Esoterikgruppen. Die Mitte finden war ganz leicht… Ja natürlich! Dort genau! Wo gibt’s Frühstück? Er wusste wo! Die großartige Küche in seinem Holzschloss - Haus 1.
War das zu riskant? War vielleicht doch jemand drin?
Der Platz zwischen den Häusern lag inzwischen im strahlenden Sonnenschein. Seine Türe hatte sich verschlossen. Er hatte fast damit gerechnet. Da war doch jemand. Oder hatte sein Mordopfer zugesperrt? Er war aber jetzt Jäger, nicht mehr Gejagter. Der Nagel, die Halle, nahm ihn in Empfang. War sie noch da? Ezra zwang sich die Treppe hinaufzusteigen und sagte dazu halblaut in Abständen „bitteschön…“ dann wieder lauter „Bitteschön!“. Das war der Anfang eines Satzes, der Gott sei Dank nicht notwendig wurde. Beim Stehlen in den Supermärkten hatte er gelernt, was Sicherheit war. Unschuldige blaue Augen, sanfte Stimme und eine erstklassige Ausrede – das sollte auch hier helfen. „…aber liebe gnädige Frau, ich habe nach Ihnen gesucht, laut gerufen, während ich die Treppe hochstieg, was hätte ich denn sonst noch machen können, ein Glas Milch, oder vielleicht nur Wasser – der Brunnen läuft nicht…“ Er erreichte die erste Etage, das Geländer fühlte sich staubig an. Staub sammelte sich an seinen Fingerkuppen. Ein kleiner Platz wölbte sich vom Treppenabsatz in den Bauch des Hauses. Am Boden der rote Kelim, der ein bisschen rutschte, und etwa drei Meter weiter die weiße Kontur – nur die Kontur.
Man hatte die Leiche weggebracht und das Haus zugesperrt – schon vor längerer Zeit.
Konnte man behaupten, dass er zurückgekehrt war an den Ort eines Verbrechens? Gab es eine wirklich gute Ausrede dafür, den glaubwürdigen Beweis, dass er den Mord nicht begangen hatte? Er wusste eines, dieses Geländer hatte länger keiner angegriffen. Der Mord war vielleicht schon verjährt. Er kehrte um und ging in Richtung Küche. Er musste in Ruhe denken. Das war die Aufgabe, aber zuerst kam sein verzehrender Hunger.