Raffael, der auch hier wohnte. Hela? Alma? Raffael? Ezra blätterte ganz ruhig in dem Buch. Welche Ziege schießt? Der Rotwein war schwer. „Also gut meine Liebe“, meinte Ezra in den Raum, „ich soll kein Wasser in den Wein tun. Wenn Sie es so wünschen, wird es geschehen.“ Er hob sein Glas. Ezra hatte Rotwein nie besonders geschätzt – jetzt brach eine neue Zeit an. Wasser geben nur schwitzende Banausen in der Mittagszeit hinein – ein Sakrileg. Er war allein und doch nicht allein. Da war etwas. Nicht körperlich wie er – es war anders. Es stand nicht neben ihm, sondern es stand in ihm. Es besetzte seine Brust, seine Seele, seine Gedanken, und manchmal war es draußen. Bewegte sich nicht der Vorhang?
Ezra hatte eine Waage gesehen im ersten Stock. Er war entschlossen, zu schauen, was er heute wog. Die Treppe war nicht einfach, aber mit einiger Konzentration zu schaffen. Er ging sorgfältig um die Menschenkontur herum, keinesfalls würde er sie mit dem Fuß berühren, und steuerte die offene Badezimmertüre an. Dort war die Waage. Er hatte 57,8 kg, wie zu vermuten war.
Die Ziege hat sich wieder ein neues Pferd zugelegt, damit sie was zwischen die Schenkel kriegt, stand im Tagebuch.
Ezra wusste nun, der Stall war weiblich, die Pferde Hengste, und die Besitzerin war eine Ziege. Meck, meck, meck…
Hela ist ein süßes Ding, wie eine Elfe. Diese Leichtigkeit ihres Ganges, wie eine Feder. Sie scheint das Gras nicht zu biegen, wenn sie läuft. Man glaubt zuerst, sie ist nicht hübsch. Sie wirkt ein bisschen farblos, alles an ihr ist durchscheinend, zerbrechlich, wie aus Blumen im Nebel geboren. Ein Schattenwesen, das Licht in die Welt bringt. Sie spricht auch nicht viel. Da ist Weichheit, eine Anschmiegsamkeit ohne Worte. Gestern ist sie in meiner Tür gestanden, wie fünfzehn Jahre, dabei hat sie schon zwei Kinder. Sie wollte zwei Kristallgläser zum Feiern. Ich habe ihr eine Flasche Schampus dazugegeben. Raffa kam mit zwei Saiblingen dazu.
Ich werde sie einfach braten, mit kleinen Kartoffeln. Dazu Thymian aus der Wiese beim Hof. Wolfram hat auch Petersilie angebaut, vielleicht ist der schon was. Ich hoffe auf den Duft von Petersiel, das Aroma grüner Wiese. Alma und Eris leiden. Leidet Fritz auch? Sie leiden in dieser grünen Wiese - unter sich selbst, unter Wolfram und wieder unter sich selbst. Eris kocht sich die Sorgen mit Köstlichkeiten aus dem Leib. Alma hat eine kurze Oberlippe vom Zusammenziehen in Abwehr. Wie das mit Raffa zusammenhängt, weiß ich nicht.
Es gab also eine Alma, eine Eris und eine Hela sowie einen Raffael, einen Wolfram und einen Fritz, und dann gab es noch eine Ziege, die auf Pferden ritt. Das wäre wohl die Herrin des Jagdschlosses. Und zu wem gehörte sie?
Ezra hatte inzwischen einen Brummkopf, und weil er nicht mehr richtig lesen konnte, ging er ins Freie. Er roch Petersilie, aber unter seinen Füßen war steiniger Grund. Die einzig wirklich grüne Wiese war beim „Kloster“ und oberhalb. Ein bisschen wacklig machte er sich auf den Weg, um Petersilie zu suchen.
Er fühlte die Verbundenheit gerade sehr stark, mit dem Essen und mit der schleichenden Krankheit seiner Hausfrau. War sie der Geist? Warum musste sie jemand ermorden, wenn sie schon so krank war, dass ihr die Haut um den Körper hing? Einsam und mit sich selbst beschäftigt, zu viel Alkohol und gutes Essen, so konnte sie niemandem geschadet haben. Sie saß allein in ihrer Küche und machte seltsame Experimente, die Gefahr fordernd, Gottesurteile mit Tollkirschen und Fliegenpilz. Vielleicht waren das aber Vorversuche zum Mord? Experimente für den Tod eines Anderen. Vielleicht war der Mord im ersten Stock eine Folge der Experimente?
Und da gab es andere Bewohner. Eine zarte, durchscheinende Hela. Eine Alma, die einen Feldstecher brachte, einen Fritz, der nichts wissen wollte, einen Raffa, der Enten und Fische brachte und scheinbar etwas mit der zarten Hela hatte. Die „Ziege“ hatte Pferde und etwas dagegen. Sie war wohl Raffas Frau. Das hieß, Raffa und die Ziege gehörten zum Jagdschloss. Und ein Wolfram baute Petersiel an, in einem anderen Haus. Da kam nur das Kloster in Frage. Denn in der Fabrik lebte die weiße Frau.
Er lenkte seinen inzwischen deutlich unsicheren Schritt zum „Kloster“. Der Weiher blinzelte ihn sehr kalt an, und kurz kam ihm die Idee, dass er vielleicht wieder nüchtern würde, wenn er dort ein Bad… Wollte er denn überhaupt nüchtern werden?! Die Vorstellung, so kaltes Wasser an seine warme, zufriedene Haut zu lassen, konnte nur einem tiefen, geheimen Selbsthass entspringen, den er sofort abstellen musste.
Die Wiese beim „Kloster“ war tatsächlich hoch und wild grün. Eine Oase im Stein. Die Wiesenzwiebel hatte er schon gefunden. Sie schmeckte scharf und saftig. Aber Petersilie sah er nicht, die war vielleicht in einem Beet hinterm Haus. Er wanderte den Kreuzgang entlang und sah wieder die Bilder, die ihm wie Kreuzwegstationen erschienen waren. Sein Blick verfing sich in einem Bild, er bremste hart, kippte leicht nach vorne und versuchte, seine Augen vorsichtig auf die richtige Entfernung einzustellen. Was er sah, hatte mit Kreuzweg zu tun, aber nicht im Sinne der Kirche. Zwei junge Frauen und einen Mann zeigte das Bild. Die Geschlechtsteile waren mit besonderer Sorgfalt gemalt, rötlich aufgeschwollen. Der Mann hatte die Hand zwischen den Schenkeln der einen und lag mit dem Kopf zwischen den Schenkeln der anderen. Das Bild hatte eine Weichheit, eine Unschärfe, aber es hatte kein Geheimnis. Ezra stand da, bewegungsunfähig, staunend und langsam baute sich Spannung unterhalb seines Gürtels auf. Gedemütigt erlebte er, wie sein Körper selbstständig wurde. „Flucht!“, schrie etwas in ihm. Da sah er dankbar ein kleines Mädchen am Ende des Kreuzganges. Sie stand im Licht, voll von der Sonne beschienen und schaute zu ihm. Es war ein sehr blasses kleines Mädchen von etwa sieben Jahren.
Und Ezra ging erleichtert zu ihr.
Jetzt würde er endlich erfahren, was hier abging. Jetzt würde er Klarheit finden. Sie stand ganz ruhig da und schaute ihn unverwandt an. Er sah die halblangen dünnen Haare und grüngraue Augen. Ihr Gesicht war ernst und völlig ruhig. Er musste das Eis alleine brechen, sie half ihm nicht.
„ Ich bin Ezra“, versuchte er. Sie stand bewegungslos. „Ich bin hier zu Besuch“, experimentierte er weiter. Sie schaute ihn an und dann kam ganz langsam Bewegung in ihre Hände. Sie rieb ihre Handflächen am Rock. Ihr Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Ihm fiel nichts mehr ein, was er noch sagen konnte. Sie rieb weiter ihre Handflächen am Rock. „Ich suche Petersilie“, sagte er, hauptsächlich um der Stille nicht die Macht zu lassen. Immerhin entsprach das den Tatsachen – er suchte Petersilie. Um sie nicht dauernd anschauen zu müssen, ließ er seinen Blick über die Wiese schweifen. Seine Augen wanderten aus dem Kreuzgang hinaus. Ein großer, runder, grüner Fleck reichte über den Hang hinauf. Das Gras stand hoch, wahrscheinlich eine Quelle. Acht Obstbäume wuchsen schon seit Jahren hier. Einer war mit Flechte bewachsen und wirkte dünn und krumm. Bioäpfel, dachte Ezra, und erinnerte sich an die kleinen, wurmigen, verschrumpelten Äpfel, die Tante Rena als „gesundes Bioobst“ herumliegen hatte. Als Kind empfand er das als Beleidigung seiner wohlorganisierten Herrschaft. Es war die Aufgabe, den König zu füttern, und da bot man ihm so schäbige Verlockungen!
Er spürte Bewegung an seinem linken Bein. Vorsichtig schaute er hinunter, da stand das Mädchen mit einem Strauß Petersilie in der Hand. „Sie versteht mich…“ – War ein gutes Gefühl. „Ich bin so froh, dass Du mir geholfen hast. Selbst hätt‘ ich das wahrscheinlich nie gefunden.“ Er setzte sein bestes Strahlelächeln auf. Alle Lehrer hatte er damit rumgekriegt. Sie blickte ihm ganz ernst in die Augen, drehte sich langsam um und ging Richtung Tal. Er stand da mit leeren Händen, obwohl er den Strauß Petersilie hielt. Sie verschwand nach dem nächsten Gebäude. Das war eine Scheune oder ein Stall. Weg war sie, und hinterließ keine Antwort, nur viele Fragen.
NACHMITTAG
Ezra war am Überlegen, wie er vorgehen wollte um das Geheimnis zu lüften. Wo überall konnte er Informationen sammeln? Mit Sicherheit im Tagebuch in Haus 1. Möglich wäre auch ein Fund