Claudia A. Wieland

Für immer Rosa


Скачать книгу

behutsam die Tür, tritt an den großen Schreibtisch heran und blickt erwartungsvoll in das strenge Gesicht der Schulleiterin.

      »Nun, zunächst einmal muss ich dir mitteilen, dass deine Bitte, Klavierstunden nehmen zu dürfen, von deinem Vater abschlägig beschieden worden ist.«

      »Abschlägig be….?«

      »Abschlägig BE-SCHIE-DEN. Will heißen, dass dein Vater nicht wünscht, dass du Klavierstunden nimmst.«

      Die Kleine möchte so gerne mal ordentlich mit dem Fuß auf dem Boden aufstampfen. Nie hat sie einen Extrawunsch gehabt. Nie, nie, nie. Nur dieses eine, einzige Mal. Aber sie ballt nur die Fäuste und stößt hervor: »Wenn ich doch so gerne möchte …«

      »Kleines Fräulein, hier ist nicht der richtige Ort, um Widerworte zu geben. Es ist so, wie es ist. Keine Diskussion.«

      »Ja, Frau Direktorin.« Die Kleine senkt den Blick und knickst höflich.

      »Und? Was gibt es sonst noch zu besprechen?«.

      Die Kleine ist ziemlich eingeschüchtert von der schroffen Art der Schulleiterin. Mit dem rechten Daumen massiert sie heftig die Innenfläche ihrer linken Hand. Doch sie nimmt all ihren Mut zusammen, denn ihr Anliegen ist sehr, sehr wichtig. »Ich wollte fragen, ähm… ob ich meiner Mutter ähm… ein paar Blumen bringen darf?«

      »Wie stellst du dir das vor? Du kannst doch nicht alleine dorthin fahren. Wer soll dich denn begleiten? Das ist ja fast eine Weltreise. Jedenfalls für ein kleines Mädchen wie dich.«

      »Ich dachte, vielleicht könnte die Köchin … an ihrem freien Tag … ich meine … mit mir kommen?«

      Zum ersten Mal während des Gesprächs zeigt sich der Anflug eines Gefühls auf dem Gesicht der Direktorin. Entfernt erinnert es an Mitleid. Ihre Stimme wird milder.

      »Ach Kind, ich will ja kein Unmensch sein, aber das geht wirklich nicht. Du musst schon warten, bis dein Vater herkommt und dich mitnimmt.«

      »Aber dann bekommt Maman zu ihrem Geburtstag ja kein Geschenk von mir!«

      »Was wolltest du ihr denn schenken?«

      »Eine Geschichte. Ähm… Die habe ich schon vor ganz, ganz langer Zeit geschrieben. Wirklich! Als ich noch neun Jahre alt war. Über eine Konzertpianistin und ihre kleine Tochter, die sie überallhin auf der Welt begleiten darf. Sie hat einen Privatlehrer, der ihr alles beibringt, was man in der normalen Schule lernen muss. Und noch viel, viel mehr. Alles, was sie wissen will. Und von ihrer Mutter lernt sie das Klavierspiel. Die beiden sind immer zusammen. Sie haben sich nämlich unheimlich lieb.«

      »Vielleicht wollen wir deiner Mutter die Geschichte schicken?«

      »Aber das geht doch gar nicht. Das weiß doch jedes Kind.« Die Kleine lächelt mitleidig. »Es gibt doch gar keine Adresse. Ich meine, von da oben.« Sie richtet ihren Blick zur Zimmerdecke. Dann fixiert sie mit ihren undurchdringlichen Augen, die jetzt von zusammengezogenen Augenbrauen überschattet werden, das Gesicht der ältlichen Pädagogin. Das Lächeln ist einem äußerst entschlossenen Gesichtausdruck gewichen. »Aber ich könnte die Geschichte in eine kleine Schachtel tun. Die von den Pralinen, die ich von Papa zu Weihnachten bekommen habe. Die habe ich nämlich mit buntem Einwickelpapier beklebt. Und eine rote Schleife habe ich auch noch. Die hat mir Maman mal für mein Haar gegeben. Sie mochte nämlich so gerne, wenn ich die Haare hinten zusammengebunden habe.« Die Mundwinkel der Kleinen beginnen zu zucken. »Und dann fahre ich mit der Köchin zu Maman. Sie hat nämlich gesagt, dass sie mich gerne begleitet. Und dann kann ich die Schachtel mit der Geschichte drin und dem bunten Einwickelpapier und der Schleife auf Mamans Grab stellen und … und dann kann sie sehen, dass ich an sie denke und … und dass wir eigentlich immer zusammen sind und … und dass ich sie unheimlich lieb habe und … « Die restlichen Worte der Kleinen gehen in einem verzweifelten Schluchzen unter.

      Die Direktorin starrt auf das Mädchen. Sie hat noch nie in ihrem Leben ein Kind tröstend in den Arm genommen. Gerne würde sie es jetzt tun, denn diese kleine Elisabeth ist etwas ganz Besonderes, übersensibel und außergewöhnlich gutherzig. Mit diesen tiefgründigen Augen, die mehr gesehen haben, als man einem Kind zumuten sollte. Und die vielleicht mehr wahrnehmen, als für die meisten Menschen sichtbar ist.

      Aber nein. Man hat sie gelehrt, dass es im Leben darum geht, Contenance zu bewahren und das will und muss sie auch diesem Mädchen vermitteln.

      Als sich die Kleine einigermaßen beruhigt hat, fordert die Schulleiterin sie auf, in ihr Klassenzimmer zurückzugehen. »Gleich ist die Pause vorbei und du hast jetzt Lateinunterricht. Den darfst du nicht verpassen, denn du weißt ja, dass deine Leistungen in diesem Fach zu wünschen übrig lassen. Also streng dich an und arbeite fleißig! Und bete für deine Mutter! Du darfst jetzt gehen!«

      »Ja, Frau Direktorin.« Die Kleine knickst noch einmal und verlässt dann ganz leise und unauffällig das Büro.

      Vor der Türe hält sie inne, wischt sich mit den Händchen energisch durchs Gesicht, atmet ganz tief durch und flüstert dann vor sich hin: »Sei bitte nicht traurig, Maman, weil ich zu deinem Geburtstag nicht kommen kann! Vielleicht klappt es ja das nächste Mal. Aber weißt du was? Ich fange gleich damit an, alles aufzuschreiben, was ich hier erlebe. Genau so, wie es passiert. Ich bin nämlich keine Lügnerin. Du wirst sehen, jetzt werde ich doch Schriftstellerin.«

      Und die Kleine rennt los, um mit der ersten Geschichte anzufangen. Den Titel weiß sie schon. ORA ET LABORA – Bete und arbeite!

      1. Kapitel

      Sie standen am Strand eines kleinen bretonischen Küstenorts mit dem überaus merkwürdigen Namen HEILIGER-YANN-VOM-ZEIGEFINGER.

      »Ich möchte Ihnen unbedingt unseren Hauptdarsteller vorstellen.« Hank Stevenson rief in Richtung einer kleinen Gruppe, etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt: »Tom! … Tom! … Tooooooom! Kannst du bitte mal herkommen?!«

      Aus der Gruppe löste sich eine hochgewachsene, schlanke Gestalt und kam lässig auf sie zugeschlendert.

      Rosa beobachtete den jungen Schauspieler sehr genau. Sein Gang war leicht federnd, schlaksig und aufreizend langsam, so als folge er nur äußerst unwillig der Aufforderung des Regisseurs. Er trug eine olivgrüne Cargohose und Sneaker, hatte die Hände in den Kängurutaschen einer dunklen Sweatjacke vergraben und die Kapuze über den Kopf gezogen. Seine Augen waren von einer Sonnenbrille verdeckt. Wahrscheinlich Ray Ban, dachte Rosa amüsiert. Männer mit seinem Image trugen neuerdings immer Ray Ban. Auf seinem Gesicht war ein breites Grinsen zu sehen, dessen Grund sich ihr im Moment nicht erschloss.

      Rosa wusste kaum mehr über Tom Savage, als das, was sie gegoogelt hatte. Obwohl der Engländer mit Wohnsitz in Los Angeles einer der gefragtesten Schauspieler in den USA war, hatte Rosa ihn noch nie auf der Leinwand gesehen. Sie rechnete sich definit nicht zu der Zielgruppe seiner Filme, die ihres Wissens vorwiegend von weiblichen Teenagern und jungen Frauen mit einer Neigung zu unkontrollierbaren Ausbrüchen angeschaut wurden.

      Tom wäre auch nicht ihre erste Wahl für die Besetzung der Rolle des Victor, ihres Romanhelden, gewesen. Sie hatte eher an einen Typ wie Matt Damon in GOOD WILL HUNTING gedacht: rebellisch, trotzig, ein bisschen verloren. Aber Matt Damon war natürlich schon viel zu alt für die Rolle eines jungen Mannes von dreiundzwanzig Jahren. Im Übrigen hatte sie gar kein Mitspracherecht gehabt, weder beim Schreiben des Drehbuchs, noch beim Casting der Darsteller. Und so wurde ihr eines Tages von der Produktionsfirma der Name von Thomas Patrick Savage mitgeteilt. In den Medien wurde er als absoluter Adonis beschrieben, war ein heißbegehrter Junggeselle und, wie Rosa vermutete, ein Womanizer, wie er im Buche stand. Das war nur gut für die Vermarktung des Films. Aber war er überhaupt der Rolle eines ernsthaften jungen Erwachsenen auf der Suche nach dem eigenen Selbstverständnis gewachsen? Und war er mit seinen sechsundzwanzig Jahren nicht schon eine Idee zu alt für diese Rolle?

      Tom kam näher und blieb dann vor Rosa und Hank stehen. Augenblicklich zog er die Kapuze herunter, nahm die Sonnenbrille ab und schaute Rosa mit einem fragenden Ausdruck an. Das unverschämte Grinsen war einem scheuen Lächeln gewichen.