Claudia A. Wieland

Für immer Rosa


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Und das ist Rosa Mansier, die Autorin von VICTOR UND CLAIRE. Ich habe Frau Mansier gebeten, unseren Dreharbeiten beizuwohnen.«

      Tom sah sie aufmerksam an. Mit einer Spur von Neugier in seinem Blick. Rosa schaute in tiefblaue, ein wenig verträumte, aber kristallklare Augen, die von dichten, kräftigen Augenbrauen überschattet wurden. Die fein geschnittene, fast zart anmutende Wangenpartie stand in starkem Gegensatz zu seinem markanten Kinn und dem Drei-Tage-Bart, den er sich vermutlich wegen der heute zu drehenden Szene hatte stehen lassen. Das dichte, haselnussbraune Haar war vom Wind wild zerzaust.

      Das, was Rosa sah, war in der Tat schön anzusehen. Toms Jungenhaftigkeit gefiel ihr sogar ausnehmend gut. Doch was sie wirklich berührte war seine kraftvolle Ausstrahlung, die sich ihr buchstäblich entgegendrängte.

      Tom streckte ihr die Hand hin und sein Lächeln wurde noch ein wenig freundlicher, sein Blick noch ein wenig interessierter. Und wenn sie sich nicht irrte, sah sie in seinen Augen … Überraschung aufblitzen? Sie nahm seine Hand, spürte einen angenehm festen Händedruck und dann … dann geschah etwas Seltsames.

      Ein unsichtbares und sehr lebendiges ETWAS kam von ihm zu ihr hinübergesprungen. Es umkreiste sie spielerisch, immer wieder und wieder, stupste sie mit Dutzenden von luftigen, vorwitzigen Zeigefingern hierhin und dorthin, zuerst zaghaft und vorsichtig, dann immer übermütiger, in die Wangen, in den Hals, in die Schultern, in die Arme, kribbelte über ihren Rücken, ihren Bauch, ihre Hüften, ihre Beine, streichelte sie dann behutsam über das Haar und hüllte sie schließlich in einer innigen Umarmung ganz fest ein. Es fühlte sich warm und weich an. Es war angenehm. Nein, es war viel mehr! Es war … wohltuend, fürsorglich, tröstlich. Eine unbändige Freude stieg in ihr auf.

      »Guten Tag, Rosa! Ich darf Sie doch Rosa nennen?« Tom machte eine kleine Pause, schien aber keine Antwort zu erwarten. »Ich bin Tom. Wir sind hier am Filmset wie eine große Familie.«

      Rosa bewegte sich leicht, um den Bann, in den er sie hineingezogen hatte, abzuschütteln. Dann räusperte sie sich. »Guten Tag, Tom! Sicher dürfen Sie mich Rosa nennen! Ich bin doch irgendwie so etwas wie die Mutter der … ich meine … die Mutter von Vic … ähm … also …« Mein Gott, was redete sie nur für einen Blödsinn daher. »Ich meine, Victor und Claire sind meine Erfindungen und deshalb…« Rosa zuckte hilflos mit den Schultern. Jetzt hatte sie sich vollends verhaspelt.

      Hank, der zweifache Oscargewinner, lachte lauthals los, als habe er gerade eine urkomische Szene erschaffen. Die kleine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen, eines seiner Markenzeichen, wurde sichtbar. »Nun lassen Sie es mal gut sein! Wir alle sehen das hier nicht so eng.«

      Rosa war auf einmal wieder hellwach. Die Situation war ihr richtig peinlich.

      Tom aber blieb ganz ernst. »Ich weiß ganz genau, was Sie meinen, Rosa, und es ist mir eine Ehre, die Autorin von VICTOR UND CLAIRE kennenzulernen.«

      »Ich freue mich sehr, SIE kennenzulernen, Tom.« Rosa schaute ihn mit einem strahlenden Lächeln an. Soeben war ihr der Grund für ihre überwältigende Freude klar geworden. Sie war in seiner Welt herzlich willkommen!

      Erst jetzt ließ Tom ihre Hand los und sagte: »Ich hoffe, wir werden schon bald die Gelegenheit haben, intensiver miteinander zu sprechen.« Er nickte ihr freundlich zu und wandte sich dann an den Regisseur. »Geht's wieder los?«

      Hank bejahte: »Okay, lasst uns weitermachen, solange die Sonne scheint!« Tom und Hank entfernten sich, während Rosa die Szenerie beobachtete.

      Es herrschte lärmende Geschäftigkeit. Hank hatte alle Schauspieler und Komparsen gebeten, an diesem ersten Drehtag dabei zu sein, um die Atmosphäre des Ortes in sich aufzunehmen und die Arbeit der Hauptdarsteller zu beobachten. Viele der Anwesenden standen in Grüppchen herum und diskutierten eifrig. Andere liefen hin und her, um die Technik ein letztes Mal zu kontrollieren. Verteilt über den Strand konnte Rosa Kameras, Scheinwerfer, Reflektoren, einen Kamerakran und einen Schienendolly erkennen.

      Die Proben waren bereits beendet und die Markierungen für die Ausgangs- und Endpositionen der einzelnen Einstellungen gesetzt. Die eigentlichen Aufnahmen konnten beginnen. Jetzt sollte die Szene gedreht werden, die das Ende ihres Romans darstellte. Rosa las im Drehbuch, das ihr Hank überlassen hatte.

       Victor und Claire sehen sich am Strand von Saint-Jean-du-Doigt wieder, nachdem Victor seinen Tod vorgetäuscht hatte und monatelang herumgeirrt war.

      Tom ging dort, wo ein Weg von der Straße auf den Strand hinunterführte, in Position. Als die Kameras auf ihn gerichtet waren, riefen verschiedene Personen nacheinander: »Ton ab!« »Speed.« »Kamera ab!« »Rolling.« »Klappe!« Dann gab der Regisseur sein Kommando. »Und Action!«

      Die Hände in den Taschen seiner Sweatjacke, die Kapuze über den Kopf gezogen, diesmal ohne Sonnenbrille, ging Tom langsam, mit diesem jugendlich federnden Gang über den Strand in Richtung Meer. Er zögerte, schaute suchend in die Kameras und plötzlich schien er jemanden erkannt zu haben. Große Freude spiegelte sich auf seinem Gesicht.

      »Schnitt!«, rief der Regisseur.

      Tom blieb stehen und im nächsten Moment veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Mit höchster Konzentration schaute er gespannt auf Hank und schien auf eine Anweisung zu warten. Hank strich sich nachdenklich durch seinen rötlichen, mit grauen Haaren durchsetzten Bart und nickte. Er war schon mit dem ersten Versuch zufrieden. Die Aufnahme musste nicht wiederholt werden. Nun ja, das ist ja auch nicht so schwer gewesen, dachte Rosa.

      An dieser Stelle stieg Charlotte Bernard, die weibliche Hauptdarstellerin, in die Strandszene ein. Sie hatte sich bisher in ihrem Trailer aufgehalten, war aber jetzt in Position gegangen und wartete auf ihren Auftritt.

      Rosa hatte die zwanzigjährige Claire in ihrem Roman genau beschrieben: dunkle Haare, zarter porzellanfarbiger Teint, rosige Lippen, dunkle Rehaugen, zierliche Figur. Ihre Idealvorstellung von einer schönen, jungen Frau. Unendlich zerbrechlich in ihrem Erscheinungsbild, aber trotzig und stark in ihrem Charakter. Charlotte entsprach, zumindest äußerlich, dieser Vorstellung. Sie sah aus wie die junge Audrey Tautou in VÉNUS BEAUTÉ.

      Nachdem Hank das Signal gegeben hatte, stapfte Charlotte entschlossen durch den Sand. Sie schaute mit gebeugtem Kopf vor sich hin, so, als denke sie intensiv über etwas nach. Dann sah sie wie zufällig auf, schaute hierhin und dorthin, und plötzlich fokussierte sich ihr Blick auf etwas in der Ferne. Sie erkannte IHN, begann zu strahlen, atmete tief durch, setzte zum Spurt an und…

      »Schnitt!« Hank war offensichtlich mit Charlottes Darbietung zufrieden. Auch diese Aufnahme musste nicht wiederholt werden. Mais oui, sie war nicht schlecht!

      Jetzt kam der Kamerabully ins Spiel. Charlotte lief über den Strand, der Bully immer vor ihr her, die Kamera auf ihre Gestalt gerichtet. Das schnelle Laufen auf dem von der Flut noch nassen Sand fiel ihr sichtlich schwer. Ihre Füße sanken zu tief in den klebrigen Untergrund ein und blieben stecken. Ihr Gesicht verzog sich zu einer schiefen Grimasse und ihr Mund bewegte sich leicht, als schimpfe sie lautlos vor sich hin. Die Aufnahme wurde abgebrochen und alles musste wieder auf Anfang gesetzt werden. Künstlerpech, dachte Rosa.

      Charlotte kehrte mit hochgerecktem Kinn zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Die Technik wurde neu ausgerichtet. Dann lief Charlotte wieder los. Dieses Mal stolperte sie und fiel hin. Ihre Assistentin, eine bleichwangige, junge Frau mit schwarzer Kleidung und Piercing in der Unterlippe, machte eine schnelle Bewegung auf Charlotte zu, aber die war schon wieder aufgesprungen und klopfte den Sand aus ihren Kleidern. Sie drehte sich um und stapfte gleichmütig zum Anfangspunkt zurück. Die Technik wurde erneut ausgerichtet. Das alles dauerte natürlich seine Zeit. Rosa trat von einem Bein auf das andere. Mon dieu!

      Die Aufnahme musste noch etliche Male wiederholt werden. Sobald die Kameras ausgeschaltet waren, zeigte sich keine Gefühlsregung auf Charlottes Gesicht. Wenn der Regisseur eine Anweisung gab, kamen aus ihrem Mund nur kurze Bestätigungen wie »Okay!« oder »Hab’ verstanden!«. Rosa fragte sich, ob Charlotte arrogant oder einfach nur gelangweilt war.

      Es folgte die nächste Einstellung.

      Tom und Charlotte fielen sich in die Arme.

      »Schnitt!«