Claudia A. Wieland

Für immer Rosa


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ja sie schrie fast.

      »Der Cairn von Barnenez ist zweiundsiebzig Meter lang, bis zu fünfundzwanzig Meter breit und über acht Meter hoch. Man schätzt sein Gewicht auf 12000 bis 14000 Tonnen. Das entspricht in etwa dem Gewicht von 2400 bis 2800 ausgewachsenen, afrikanischen Elefantenbullen.« Wieder machte sie eine Pause, um die letzte Information gebührend sinken zu lassen. »Der Cairn gehört zu den ältesten megalithischen Bauwerken in Europa, vielleicht ist er sogar DAS älteste megalithische Bauwerk.«

      Rosa beschrieb mit dem Arm einen Halbkreis: »Wir befinden uns hier auf dem höchsten Punkt der Halbinsel Kernéléhen. Dort unten, zu Füßen dieses Hügels, breitet sich die Bucht von Morlaix aus. Früher war dort einmal fruchtbares Land, bevor das Meer gierig von allem Besitz ergriff.«

      Rosa winkte Tom zu sich heran und sie spazierten Seite an Seite hügelabwärts, an der Längsseite des Tumulus entlang, vorbei an den Öffnungen zu den Grabkammern, bis zu der dem Meer zugewandten Seite. Dort entfernte sich Rosa wieder von Tom und ging einige Schritte auf die Bucht zu. Sie blieb mit dem Rücken zu ihm gewandt stehen und schaute fasziniert auf das Meer und den breiten, orange-goldenen Streifen, den die Sonne, die sich langsam dem Wasser näherte, auf die Oberfläche malte.

      »Ist es nicht ergreifend schön hier?«, sagte sie leise, mehr zu sich selber als zu Tom, der sie wegen des Windes sowieso nicht hätte hören können. Aber sie fühlte, dass er dicht hinter ihr stand. Sie spürte ihn, spürte seine Aura, die unaufhörlich, wie mit tausend wehenden Armen, nach ihr zu greifen schien. Sie hielt den Atem an, um jedes Wort, jede seiner Bewegungen wahrzunehmen. Alle ihre Sinne waren geschärft.

      Dann fühlte sie seine Hand auf ihrer Schulter, diesen sanften Druck, als wolle er sie festhalten, damit sie sich nicht wieder von ihm entfernte. Sie erzitterte unter der Berührung, drehte sich zu ihm herum und … stutzte. Er stand gar nicht da. Sie hätte gar keine Berührung spüren dürfen. Tom war mindestens fünf Meter von ihr entfernt und hatte seinen versonnenen Blick auf ihre Gestalt gerichtet, schaute aber wie durch sie hindurch, vielleicht auf den sich hinter ihr ankündigenden Sonnenuntergang. War es seine Energie, die ihre Schultern gestreift hatte? Nein, die Ausstrahlung eines anderen Menschen körperlich zu spüren, wenn man dicht bei ihm stand, war EINE Sache. Auch darüber konnte man sich natürlich streiten. Aber auf diese Entfernung etwas wahrzunehmen? Als wären sie durch unsichtbare Bänder miteinander verbunden? Unmöglich!

      Rosa ging wieder näher an Tom heran, stand ihm jetzt direkt gegenüber, und fragte vorsichtig, aber mit fester Stimme: »An was denken Sie gerade?«

      Sein Blick fokussierte sich wieder und richtete sich auf ihre Augen, als er langsam, als sei er gerade aus einer Trance erwacht, erwiderte: »Ich dachte gerade nur, dass diese Aussicht ergreifend schön ist. Danke für diesen Ausflug, Rosa!« Unvermittelt griff er nach ihrer Schulter und drückte sie ganz sanft, wie in stillem Einvernehmen. Dann ließ er seine Hand sinken und Rosa versuchte, ihre Verwirrung zu überspielen.

      »Es gibt eine alte Legende um diesen Ort. Sind Sie bereit, sie zu hören?«

      »Ja, erzählen Sie!«, forderte Tom sie auf. Er war offensichtlich wieder ganz wach und konzentriert.

      Und Rosa begann mit verschwörerischer Stimme zu erzählen:

      »In der Nacht vor Imbolg, dem keltischen Feiertag, treffen sich die erfahrenen Seelen, will sagen, die, die schon einmal einen Menschen durch ein Leben geführt haben, auf diesem heiligen Hügel. Sie wollen sich bei den Hütern des Feuers, den Abgesandten des Gottes Taranis, Wohlwollen für ihre zukünftigen Aufgaben erbitten. Taranis erschafft aus dem ewigen Feuer die Funken der neuen Seelen und teilt ihnen eine menschliche Behausung zu. Sie aber, die kundigen Seelen, haben ein selbst gewähltes Ziel, für das sie um die Gewogenheit der Hüter nachsuchen. So wollen die einen sofort in den Kreislauf von Leben und Sterben, Liebe und Leid, zurückkehren, die anderen aber eine gewisse Zeit in der Zwischenwelt verharren. Sei es, um sich vor der Rückkehr in den irdischen Kreislauf auszuruhen und nachzusinnen. Sei es, um ihre zurückgebliebenen Lieben zu bewachen. Sei es, um sich von den irdischen Bindungen auf immer zu lösen und in das ewige Feuer heimzukehren. Und im Morgengrauen, mit den allerersten Sonnenstrahlen - so sagt man jedenfalls - stieben sie wie Funken über lodernden Flammen auseinander, ihrem göttlichen oder irdischen Leben entgegen.«

      Die letzten Worte flüsterte Rosa nur noch, aber mit solcher Inbrunst und Leidenschaft, dass Tom sichtlich erstarrte. In diesem Moment versank, wie nach einem geheimen Drehbuch, die Sonne glühend in der Bucht von Morlaix, genau dort, wo früher fruchtbare Felder gewesen waren.

      Rosa lächelte Tom zu und sagte in plötzlich verändertem, fröhlichem Tonfall: »Haben Sie Lust, mit mir essen zu gehen?«

      »Oh ja, ich habe jetzt wirklich Hunger bekommen.« Tom schüttelte sich leicht, als wolle er sich aus dem Zauberbann dieses unwirklichen Ortes befreien. »Das war eine sehr eindrucksvolle Vorstellung! Sie haben durchaus schauspielerische Qualitäten! Danke Rosa!«

      »Gern geschehen, Tom! Aber für den Sonnenuntergang kann ich nichts. Wirklich nicht!« Sie lachte ausgelassen.

      Sie kehrten zu Rosas Peugeot, den sie auf einem Parkplatz am Fuß des Hügels abgestellt hatten, zurück und setzten ihre Fahrt fort.

      Aus den Lautsprechern des CD-Players erklang eine melancholische Melodie. Es war wieder Melody Gardot.

      »Darf ich?« Tom drückte auf den Lautstärkeregler, um die Musik lauter zu stellen. Nach einer Weile sagte er: »Die Melodie ist so schwermütig und dabei handelt das Lied von einer LEICHTEN Liebe. Hören Sie das? Wie die Musik den Text kontrapunktiert? Das gefällt mir sehr gut.« Tom kreiste wie zur Untermalung mit dem rechten Zeigefinger durch die Luft und Rosa sah, wie erstaunlich lang und feingliedrig seine Finger waren.

      »Jedenfalls sollte man dieses Album nicht unbedingt anhören, wenn man unglücklich ist«, erwiderte Rosa. Sie bemerkte, dass Tom einen schnellen Blick auf ihr Profil warf. »Glauben Sie, dass Liebe überhaupt leicht sein kann?«, fragte sie, wobei sie versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen.

      »Auf jeden Fall. Ich meine, Liebe sollte, wie es in dem Lied heißt, einfach wie Wasser dahinfließen. Wir werfen ihr ständig Hindernisse in den Weg mit unseren idiotischen Bedenken, mit unserem ständigen Wenn und Aber. Bullshit! Wenn sie zu einem kommt, muss man sie geschehen lassen. Muss man sie fließen lassen. Sie findet ihren Weg schon. Ich meine jedenfalls, dass die Liebe von Natur aus froh und unbeschwert ist. Man sollte sie nicht immer so kompliziert machen.«

      Rosa dachte über seine Worte nach. Zweifellos war Tom ein nachdenklicher junger Mann, aber das, was er sagte, zeugte auch von einer wunderbaren Unbekümmertheit. War das Attitüde oder der authentische Tom?

      Nach einer Weile des Schweigens fügte Tom hinzu: »Allerdings ist das im Film ein bisschen anders, ich meine mit der Liebe. Je bedeutungsschwerer sie ist, desto vielschichtiger und faszinierender ist die Rolle für den Schauspieler und desto interessanter ist die Geschichte für den Zuschauer. Wie in VICTOR UND CLAIRE

      »Haben Sie deshalb die Rolle des Victor angenommen?«

      »Das war einer der Gründe. Außerdem haben mich die Drehorte gereizt. Und die Aussicht auf französische Lebensart. L’art de vivre, n’est-ce pas?« Tom verdrehte die Augen.

      »Sprechen Sie Französisch?«, fragte Rosa erstaunt. Sie fand seinen englischen Akzent äußerst anziehend.

      »Nicht wirklich. Von meinem Französischunterricht in der Schule sind nur ein paar Worte hängengeblieben. Und dann kenne ich noch diese Sätze, die man so in Hotelbars hört.«

      »Dann wollen wir es für heute lieber bei Ihren Kenntnissen belassen.«

      »Kluge Frau!«, bemerkte er trocken und sie lachten.

      XXX

      Rosa hatte ein kleines Restaurant direkt an der Strandpromenade eines verschlafenen Küstenortes ausgesucht. Sie saßen gebeugt über die Menükarten und studierten das Speisenangebot.

      »Ich kann leider so gut wie nichts verstehen.« Tom schaute angestrengt in die Karte, als könne er durch pure Konzentration die Worte ins Englische verwandeln. Rosa hätte