Peter Urban

Marattha König Zweier Welten Gesamtausgabe


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stellen zu müssen. Er war klein und zierlich wie eine Balletttänzerin. Seine Vorgänger in Kalkutta waren imposantere Männer gewesen: Lord Clive, der mit dem Schwert in der Hand die Vormachtstellung Englands in Indien erkämpft hatte – ein harter, machtbewußter Soldat. Warren Hastings, sein Nachfolger, der die Errungenschaften Clives erfolgreich gegen äußere und innere Feinde verteidigt und nie einen Hehl daraus gemacht hatte, dass auch er den Weg des Schwertes dem des Wortes vorzog. Und Lord Cornwallis, Sir Johns Vorgänger, war ein bewährter Staatsmann und kampferprobter Soldat, der Indien so verwaltet hatte, wie er es für richtig befand. Wer Cornwallis nicht zu Willen gewesen war, dem hatte er mit Feuer und Schwert Vernunft beigebracht.

      Der Mann jedoch, der an diesem Nachmittag neben Wesley stand, zählte nicht zu dieser Kriegerkaste, der England üblicherweise seine überseeischen Besitzungen anvertraute. Bevor man Sir John zum Generalgouverneur ernannt hatte, war er ein hoher Beamter im Finanzministerium gewesen, dessen größte Errungenschaft die Ausarbeitung und Einführung eines funktionierenden Steuersystems für Britisch-Indien war. Sir Johns Waffen waren der Abakus, das Wort und die Feder. Er regierte die Kolonie getreu seinen Anordnungen aus London und mischte sich so wenig wie möglich in die innere Politik der Fürstentümer und Gebiete ein, die man ihm anvertraut hatte. Seine größte Sorge war, einmal im Jahr eine peinlich genaue Abrechnung der Gewinne der »John Company« zusammen mit prall gefüllten Geldtruhen in die Leadenhall Street nach London zu schicken, nachdem er zuvor pflichtbewusst den Anteil des Königs abgezogen und an das Schatzamt überstellt hatte.

      Als er Wesley endlich mit sanfter Gewalt in einen der bequemen Sessel gedrückt hatte, klatschte er in die Hände, und wie aus dem Nichts tauchte ein indischer Bediensteter neben dem niedrigen Tisch auf und servierte den beiden Männern Zitronentee. »So, und nun müssen Sie mir die letzten Neuigkeiten aus England erzählen, junger Freund!« Der Generalgouverneur lächelte.

      Arthur saß genauso steif im Sessel, wie er zuvor im Zimmer gestanden hatte. Die Leutseligkeit Sir Johns brachte ihn noch immer aus dem Gleichgewicht, und einer alten Gewohnheit folgend, richtete er den Blick auf den Boden. Doch plötzlich gewann sein Mut die Oberhand über diese Gewohnheit aus den Jugendtagen in Dublin, und er blickte Sir John in die Augen. Zwei Stunden später beendete er seinen Bericht und wagte es sogar, nach der inzwischen lauwarmen Limonade zu greifen und davon zu nippen.

      Der Generalgouverneur strahlte ihn zufrieden an. »Sehr interessant, Oberst! Sie dürfen nicht vergessen, dass wir hier sieben Monate Seeweg von London entfernt sind und unser erstes Interesse bei den

      Neuankömmlingen sich natürlich auf die Nachrichten und Informationen aus unserer geliebten Heimat richtet.«

      »Verzeihen Sie, Mylord! Ich hatte nicht daran gedacht.«

      »Ach was! Entschuldigen Sie sich nicht wie ein Schuljunge«, tadelte Sir John den Offizier freundlich. »Im guten alten England sind Sie – nicht zuletzt aufgrund Ihres Alters – einer unter vielen. Zumindest glauben Sie das, weil die hohen Herren in den Horse Guards es Ihnen eingebläut haben, nicht wahr?«

      Arthur entfuhr ein leises: »Natürlich, Mylord.«

      Der Generalgouverneur überrumpelte Arthur mit einer unerwarteten Frage. »Wie stehen Sie dazu, dass Spanien im August 1796 einen Bündnisvertrag mit der französischen Republik unterzeichnet hat? Aus der Sicht eines britischen Offiziers in Indien natürlich.« Sir Johns Stimme hatte ihre Weichheit verloren und war plötzlich geschäftsmäßig und hart geworden. Sein freundliches Lächeln verwandelte sich in eine kalte Maske, die keinen Widerspruch zu dulden schien.

      Derselbe Reflex, der Arthur noch wenige Augenblicke zuvor demütig zu Boden hatte blicken lassen, veranlasste ihn nun dazu, seinem Gegenüber fest in die Augen zu sehen. Mit ruhiger Stimme erläuterte er Sir John die politische Gesamtlage der europäischen Welt. Dann legte er dar, wie die Konstellation der großen Nationen sich auf der anderen Seite der Erdhalbkugel darstellte. In knappen Sätzen stellte er vier Hypothesen in den Raum und erklärte das Für und Wider jeder einzelnen. Als Resümee schloss er mit einem historischen Präzedenzfall: Warren Hastings hatte vor fünfzehn Jahren einer noch stärkeren feindlichen Koalition entgegentreten müssen.

      Sir John pfiff leise durch die Zähne. »Gütiger Himmel«, murmelte er. »Wenn wir Ihnen eine Chance geben, Wesley, werden Sie es weit bringen.«

      Arthur hatte diese Worte nicht einmal wahrgenommen. In den zehn Jahren, die er nun den roten Rock trug, hatte ihn nie jemand nach seiner Meinung gefragt oder ihn dazu aufgefordert, seine Gedanken laut zu äußern. Lob oder Anerkennung waren so ungewohnt für ihn, dass er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte.

      Neugierig betrachtete der Generalgouverneur den Kommandeur des 33. Regiments. »Sonderbar«, ging es ihm durch den Kopf, »als ob der Junge Angst hat zuzugeben, dass er denken kann. Es wird nicht einfach sein, ihn aus der Reserve zu locken.«

      Sir John bediente sich nun wieder des freundlichen und leutseligen Tonfalls wie zu Beginn des Treffens. »Ich würde es sehr zu schätzen wissen, Oberst Wesley, wenn Sie mir in den nächsten Tagen in schriftlicher Form einen Plan für eine mögliche britische Operation gegen Spanisch-Manila auf den Philippinen vorlegen könnten.« »Wie Sie befehlen, Mylord!« murmelte der junge Kommandeur, ohne den Blick vom Boden des Arbeitszimmers zu nehmen.

      Obwohl Arthur Fort William und Sir John bereits vor Stunden verlassen hatte, wollte seine sonderbare Stimmung, die zwischen innerer Unruhe und Euphorie schwankte, nicht weichen. Er war beunruhigt, denn der Gouverneur hatte ihm eine Aufgabe gestellt, die man in England nur einem altgedienten Soldaten im Generalsrang mit langjähriger militärischer und politischer Erfahrung anvertrauen würde. Zugleich war er überglücklich, denn Sir Johns Auftrag war der Beweis für die Richtigkeit seiner Theorie: Für den, der zuzugreifen wagte, bot ein neues Land unbegrenzte Möglichkeiten.

      In dieser sonderbaren Stimmung war der junge Offizier, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, vom Regierungspalast des Generalgouverneurs in westliche Richtung geschlendert, ohne dabei auf die Uhr zu schauen oder sich zu orientieren. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass er die große Brücke, die über den Hoogley nach Hoara führte, überschritten und bereits weit hinter sich gelassen hatte.

      Der Nachmittag war inzwischen dem Abend gewichen, und die tropische Nacht senkte sich rasch über Kalkutta. Im Hintergrund verglühte leuchtend rot die Sonne in den trüben Wassern des Flusses. Niemand schien von dem Mann in britischer Uniform, der ungewohnterweise zu Fuß und nicht zu Pferd unterwegs war, Notiz zu nehmen, obwohl die Offiziere der Ostindischen Kompanie und der britischen Krone sich selten in den Stadtteil Hoara wagten. Ab und an zischte es irgendwo: »Pardesi« – ein Fremder! Arthur kannte das Wort, und die zwei Wochen in Indien hatten ihm geholfen, die Melodie dieser Sprache – Hindustani – zu verinnerlichen. Die Sprache, die er aus seinen Büchern zu lernen versucht hatte, gab es eigentlich gar nicht. Die Menschen hier sprachen eine Art Dialekt, den man »Vernacular« nannte, und der viel anspruchsloser und einfacher war als die Schriftsprache, in der sich offensichtlich nur Gelehrte und Philosophen ausdrückten.

      Der Stadtteil Hoara war eine eigene Welt, die mit dem Kalkutta am rechten Ufer des Hoogley nur wenig gemein hatte. Hoara gehörte den Kaufleuten, die in großen Karawansereien lagerten – mit ihren Kamelherden und den Waren, die sie aus allen vier Himmelsrichtungen zusammengetragen hatten, um sie auf den großen Märkten der Regierungszentrale von Britisch-Indien oder im Frachthafen Diamond Harbour unweit der Küste anzupreisen und an den Mann oder – besser gesagt – die Ostindische Kompanie zu bringen. Hoara war auch der Unterschlupf der Rosstäuscher und Pferdehändler. Hier verwandelten sie zweifelhafte Vierbeiner in rassige Vollblüter und verpassten ihnen Ahnentafeln und Stammbäume, die so lang waren wie der Koran und mit der Wirklichkeit nicht viel gemein hatten. Britische Offiziere vermieden es, an diesem finsteren Ort nach einem geeigneten Tier Ausschau zu halten und bezahlten lieber die höheren Preise des Pferdemarktes von Bhawanipur, der zweimal in der Woche abgehalten wurde.

      Während Arthur durch den Golabari-Bazar schlenderte, drangen ihm aus lichtüberfluteten, lauten Buden und Häuschen die exotischsten Düfte des Orients in die Nase. Ein Stimmengewirr aus unzähligen Dialekten und Mundarten drang auf die überfüllte Gasse hinaus; es herrschte ein solches Gedränge, dass der junge Offizier geschoben und gedrückt wurde. Es gab kein Entkommen