Peter Urban

Marattha König Zweier Welten Gesamtausgabe


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ihm verlockender in die Nase und erinnerte ihn daran, dass er seit den frühen Morgenstunden nichts mehr gegessen hatte.

      Als hätte eine der zahllosen Hindu-Gottheiten seine Gedanken gelesen, befand er sich wenige Minuten später – halb geschoben, halb gezogen – vor dem Hauptportal des Kaschmir-Serais, einer der größten Karawansereien an der »Grand Trunk Road«, die den Subkontinent von den Bergen Afghanistans bis zur Küste des Golfes von Bengalen wie eine große, offene Wunde durchzog. Der Serai diente den muslimischen Kaufleuten und Handelsherren aus dem Norden des Landes als Kontor und Unterschlupf, während sie ihre Waren oder ihre Tiere im Zentrum der britischen Macht anboten. Er ähnelte einem Hufeisen, das um einen großen, offenen Platz gelegt worden war. Sämtliche Volksstämme des Nordens schienen auf diesem engen

      Raum vereint zu sein, und mit ihnen Hunderte von Packkamelen und struppigen Lastenponys.

      Obwohl es schon spät am Abend war, ging das Be- und Entladen der Waren unaufhaltsam voran. Stämmige Männer mit wallenden, oft hennagefärbten Bärten und dunklen Augen zogen in Ziegenhäuten Wasser aus einem Brunnen im Zentrum der Karawanserei, um ihre Tiere zu tränken. Sie gehörten meist dem Volk der Paschtunen oder der Kabulis an. Mit Schleiern verhüllte Frauen mit breitem, goldenem Armschmuck bereiteten an offenen Feuern oder auf behelfsmäßigen Öfen aus gebrannten Lehmziegeln die Abendmahlzeit zu. Bengalische Knechte warfen körbeweise frisch geschnittenes Gras vor unruhige Reitpferde, die schrill wieherten, während sie mit Fußtritten die Wachhunde fortscheuchten, die die Karawanen begleitet hatten und nun den ganzen Platz unsicher machten, stets auf der Suche nach einem Stück Fleisch oder einem weggeworfenen Knochen. Schreien, Streiten, Fluchen und Feilschen beherrschten die Nacht, und nur die Unterkünfte der Handelsherren, zu denen man über elegant geschwungene Steintreppen hinaufsteigen musste, schienen Zuflucht vor dem Aufruhr im Zentrum zu bieten.

      Sir John Shores Anliegen und Arthurs Hunger verflüchtigten sich in diesem bunten, fremdländischen Meer. Neugierig betrachtete er die Menschenansammlung, als sich plötzlich von hinten eine Hand auf seine Schulter legte. In einem Reflex wollte Arthur den Degen ziehen, doch bevor er dazu kam, packte eine zweite Hand energisch seine Rechte, und eine tiefe Stimme fragte ihn in einem passablen, wenn auch nicht ganz akzentfreien Englisch: »Habt Ihr Euch verirrt, Oberst-Sahib?«

      Arthur drehte sich um und blickte in ein bärtiges, wettergegerbtes Gesicht. Ein Paar grüner Katzenaugen funkelte ihn amüsiert an.

      »Nein, ich habe mich nicht verirrt!« antwortete Arthur gelassen. Der Mann, der vor ihm stand, trug einen Turban und ein weites Gewand, unter dem nur die ledernen Reitstiefel hervorlugten. Um die Hüfte hatte er einen schweren Seidenschal geschlungen, in dem über Kreuz ein Paar Pistolen und ein großer, gekrümmter Dolch steckten. »Für gewöhnlich wagen die Sahibs sich nicht in den Kaschmir-Serai. Es ist ein gefährlicher Ort. Kann leicht passieren, dass ein Mann hier verschwindet und dann irgendwann, irgendwo mit durchgeschnittener Kehle gefunden wird«, fuhr der bärtige Riese fort.

      Arthur lächelte ihn freundlich an. »Warum?«

      »Ihr seid nicht ängstlich, Oberst-Sahib. Das gefällt mir. Mein Name ist Lutuf Ullah, meine Heimat liegt jenseits der Berge, und ich bringe die herrlichsten Pferde nach Kalkutta, die die Welt je gesehen hat.« Arthur lächelte immer noch freundlich. »Wesley, 33. Infanterieregiment, Dublin!«

      Der bärtige Kabuli schüttelte den Kopf und schob Arthur durch das Gewühl zu einer der Steintreppen, die zu den Kontoren und Wohnräumen der Handelsherren führte. Man machte den beiden Männern großzügig Platz, und der Offizier bemerkte, wie manch einer die Hände vor der Brust kreuzte und sein Haupt vor Lutuf Ullah beugte. »Wesley-Sahib aus Dublin, es war trotzdem keine kluge Idee von dir, alleine hierher zu kommen. Sei mein Gast, dann werde ich dir ein paar Männer geben, die dich über den Hoogley nach Fort William zurückbringen. Die schlimmen Tage des >Schwarzen Lochs< liegen noch nicht so weit zurück!«

      Arthur senkte kurz das Haupt vor dem Kabuli und dankte ihm für die Einladung.

      »Nicht doch, Wesley-Sahib! Du darfst in diesem Land nie vor einem Mann zu Boden blicken, sonst wird er sagen, du fürchtest ihn und bist ihm unterlegen. Wenn du einen Mann achtest oder höflich sein willst, dann blicke ihm gerade in die Augen. Du trägst den Rock eines Obersten des Königs. Damit bist du ein bedeutender Mann hier.«

      Arthur schmunzelte. »Danke für die Schulstunde, Lutuf Ullah. Darüber stand in meinen klugen Büchern leider nichts. Wo hast du gelernt, unsere Sprache so gut zu sprechen?«

      Der Kabuli antwortete mit einer Gegenfrage, während er die schwere, mit Eisen beschlagene Holztür zu seinen Wohnräumen aufstieß. »Wo hast du unsere Sprache gelernt?« Er klatschte in die Hände, und zwei verschleierte Frauen tauchten auf. In einer völlig fremden Mundart fuhr er sie scharf an, und sie verschwanden sofort wieder in einem mit Teppichen verhängten Nebenzimmer. »Zwei meiner Weiber«, erklärte er Arthur. »Sie werden uns Essen bringen und Pfefferminztee.« Er wies auf einen Haufen bunt bestickter Kissen, die scheinbar achtlos um einen schweren Teppich herum lagen.

      Arthur hatte auf der Überfahrt gelesen, dass die meisten Stämme Indiens nicht an Tischen saßen, sondern auf dem Boden hockend speisten. Also ließ er sich auf der einen Seite des Teppichs nieder, während

      Lutuf Ullah sich in die Kissen auf der anderen Seite fallen ließ. »Du bist mir noch eine Antwort schuldig, Wesley-Sahib.«

      »Ich habe auf der Überfahrt von England viel gelesen«, seufzte er. »Ich kann eure Sprache lesen und sogar schreiben. Ich war als Kind für drei Jahre das Pfand für das Ehrenwort meines Vaters.«

      »Du meinst eine Geisel?«

      »Aber, aber, Wesley-Sahib! Das ist kein schönes Wort. Hastings-Sahib war ein weiser Mann. Er sprach nie von Geiseln, nur davon, dass er ein Pfand im Austausch für das Ehrenwort meines Vaters wollte ... das Ehrenwort, eure Handelsniederlassungen entlang der großen Straße nicht ständig mit einem Schutzgeld zu belasten.«

      »Du meinst plündern.«

      »Wesley-Sahib! Benutz doch nicht solch schreckliche Worte! Unsere Sprache ist farbig und bietet viele Möglichkeiten, über gewichtige Probleme zu sprechen und sinnvolle Lösungen zu finden, ohne einander zu verletzen.« Die grünen Augen des Kabuli funkelten munter.

      Kapitel 4 Nur ein grosses Spiel

      Arthur kehrte erst in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages von seinem Ausflug in den geheimnisvollen Orient zurück. Er teilte sich ein kleines Haus unweit der Unterkünfte des 33. Regiments mit Sir John Sherbrooke. Doch obwohl die beiden jungen Offiziere in einem ziemlich engen Provisorium lebten, das nur aus zwei Schlafzimmern, einem Salon, einem Speisezimmer und einer hübschen, mit Jasmin überwachsenen Veranda bestand, bemerkte Sherbrooke den späten Heimkehrer nicht. So leise wie möglich kleidete Arthur sich aus und ging zu Bett. Der indische Bedienstete, den die beiden Offiziere eingestellt hatten, wohnte in einem winzigen Häuschen hinter dem ihren. Auch er hatte den Heimkehrer nicht gehört.

      Arthur wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte zu schlafen. Er würde bereits um vier Uhr in der Früh bei seinen Männern sein und dafür sorgen, dass Shee und West seine Befehle ordentlich ausführten. Und wenn das 33. Regiment sich während der schlimmsten Hitze des neuen Tages unter schattigen Bäumen ausruhen durfte, wartete auf ihn die Aufgabe, die Sir John Shore ihm gestellt hatte. Er schloss sorgfältig das feine Gazenetz, das von der Decke hing und sein Bett zum Schutz vor Stechfliegen einhüllte. Dann verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und dachte nach: Es war nicht das Problem Spanisch-Manilas, das ihn beschäftigte, sondern der denkwürdige Abend, den er mit dem Kabuli Lutuf Ullah im Kaschmir-Serai verbracht hatte. Sie hatten sich ausführlich über Indien unterhalten. Lutuf kam als Pferdehändler nicht nur nach Kalkutta. Er bereiste auch regelmäßig die Fürstentümer der unabhängigen Rajahs, das Maharashtra, Gujerat, Rajasthan und den Punjab. Er war ein Kind seines Volkes und erzählte leidenschaftlich gerne von diesen weiten Reisen, und Arthur war ihm ein aufmerksamer und dankbarer Zuhörer gewesen.

      Vieles, das der junge Oberst im Verlauf der Überfahrt in seinen Büchern gelesen hatte, hatte Lutuf