ihm Bescheid, dann kann ich ihn mir ansehen!“
Sie nahm ihr Handy zur Hand, schaltete es an – eine Geste, die ich sehr begrüßte, also die Tatsache, dass das Ding vorher ausgeschaltet war - und überraschte mich. Normalerweise hätte ich eine schnell getippte Nachricht erwartet, aber sie rief ihn tatsächlich an. Und dann passierte gleich noch etwas, was mich überraschte: die sonst so taffe und verkopfte Leonie wurde am Telefon ganz anders, sie fing an zu säuseln, redete mit einer Stimme, die ich bei ihr nur selten gehört hatte. Eigentlich nur, wenn sie mit meiner Tochter zusammen war.
Während sie mit ihrem Freund redete, ging mir das komplexe Beziehungsgeflecht unserer Familien durch den Kopf. Denn Leonie hatte tatsächlich in den letzten Wochen und Monaten auch eine Freundschaft zu Vicci und Paul aufgebaut – sogar mehr und enger als Thomas selber. Ich war für sie Mutter, große Schwester und Freundin geworden. Und wenn ich geahnt hätte, was noch alles passieren würde, dann hätte ich an dieser Stelle wohl laut aufgelacht – manchmal ist es ganz gut, dass man nicht in die Zukunft sehen kann …
„Juri kommt gleich, er war bei einem Bandkollegen. Er spielt nämlich auch noch Gitarre“, sie bekam wieder diesen verklärten Blick, „und hat gerade die Zeit genutzt, seinen Schlagzeuger zu besuchen!“
Nun war ich noch neugieriger auf dieses Prachtexemplar.
Nett, klug, einfühlsam, Musiker, lange Haare, Tattoos …, das war auch mal mein Idealbild eines Mannes gewesen. Wenn ich das aber mit Peter oder Thomas verglich, dann war ich wohl doch eher in Richtung „Langweiler“ und „Sicherheit“ geschwenkt. Nett und klug war Thomas auch, einfühlsam, na ja, es ging so, und die anderen Attribute passten auch nicht wirklich. Und bei Peter passte im Nachhinein gar keins davon mehr!
Meine Gedanken wurden von der Klingel unterbrochen. Leonie sprang direkt auf und ging zur Tür, um Juri zu öffnen.
Wenige Augenblicke später standen die beiden händchenhaltend in meinem Wohnzimmer. Sie waren so mit sich beschäftigt, dass ich ein wenig Zeit hatte, mir den Mann etwas genauer zu betrachten. Er war etwas größer als Leonie, nicht wirklich muskelbepackt, aber durchtrainiert, ein entspanntes, offenes Lächeln, durch und durch sympathisch.
Er kam auf mich zu und streckte mir zur Begrüßung die Hand entgegen. „Hi, ich bin Juri, Leonie hat mir schon viel von … Ihnen …“, er schien sich nicht ganz sicher zu sein, was die richtige Anrede für mich war. Einerseits war ich nur gut zehn Jahre älter als er, andererseits war ich die Freundin seines potentiellen Schwiegervaters – und Thomas hatte ihm mit Sicherheit nicht das „du“ angeboten.
„'Du' ist völlig okay, ich bin Eva.“
„Gut, also, Leonie hat mir schon viel von dir erzählt, sie hält große Stücke auf dich! Wir hoffen, dass du bei ihrem Vater ein gutes Wort für mich einlegen kannst. Ich glaube, er hat Angst, dass ich seiner kleinen Tochter weh tue. Dabei ist es einfach so, dass ich mir mein Leben gar nicht mehr ohne sie vorstellen will.“
Mein Mutterherz (und auch mein Frauenherz) schlug höher bei solchen Worten. Konnte man eine schönere Liebeserklärung machen? Aber ich hatte eine Aufgabe – ich sollte ihm ein bisschen auf den Zahn fühlen.
„Magst du erstmal etwas trinken? Vielleicht auch ein Glas Wein?“
„Lieber nur ein Wasser, keinen Alkohol, wenn ich fahren muss …, nein, das ist kein Spruch, um dich zu beeindrucken. Ich habe nach dem Abi ein freiwilliges soziales Jahr gemacht, da war ich in einer Klinik für Alkoholkranke. Ich habe in diesen zwölf Monaten mehr Schicksale gesehen, als mir lieb war. Da war für mich klar, dass ich niemals trinken und fahren würde.“
Damit hatte er schon mal bei mir gepunktet.
Also holte ich ihm ein Wasser und wir unterhielten uns.
Ich wusste, dass Thomas vor allem drei Dinge interessierten und ich wusste ehrlich gesagt nicht, wie ich diese Fragen geschickt verpacken konnte.
„Juri, hör zu, ich persönlich finde diese ganze Situation hier ziemlich seltsam und du kannst jeden fragen, vor allem meinen Exmann – ich bin nicht gut darin, wahnsinnig subtil oder diplomatisch Menschen auszuhorchen. Deshalb stelle ich dir drei Fragen, von denen ich weiß, dass sie Thomas interessieren und es wäre toll, wenn du sie mir einfach beantworten könntest, damit wir alle dann zum angenehmen Teil des Abends übergehen könnten. Dich, Leonie, würde ich bitten, dein Temperament für diese Zeit unter Kontrolle zu bringen und weder mich noch deinen Vater zu verfluchen oder zu töten. Wenn ich dich daran erinnern darf, dann war es auch deine Idee, dass ich mit Juri rede, um deinen Vater zu beruhigen!“
„Ja, aber …“, fing sie direkt an zu protestieren.
Juri legte beruhigend seinen Arm um sie und küsste sie auf die Schläfe - er war kein wirklich schöner Mann, aber mit seiner Ruhe und Ausstrahlung machte er weiteren Boden gut bei mir.
„Leonie, Schatz, sie hat recht, wenn wir wollen, dass sie mit deinem Vater redet, dann lass sie fragen, was immer sie fragen will!“
Intelligenter Kerl!
„Also los – du wirkst älter als Leonie, wieso studierst du noch?“
„Das ist leicht – ich habe mein Abi auf einer Gesamtschule gemacht, da hatten wir dreizehn Jahre bis zum Abi, dazu eine Ehrenrunde, ein freiwilliges soziales Jahr und dann noch ein Jahr intensiven ukrainischen Sprachkurs bei meiner Verwandtschaft in Odessa. Ich dachte, wenn ich die Möglichkeit habe, hier in Deutschland Medizin zu studieren, dann ist die Kenntnis einer weiteren Sprache neben Deutsch und Englisch sicher nicht verkehrt!“
„Gut, damit wären wir bei der zweiten Frage, die schließt sich hier direkt an - erzähl mir etwas über deine Familie.“
Ich sah, wie Leonie ansetzte zu protestieren und Juri sie einfach nur fester in den Arm nahm.
„Mein Vater ist Deutscher, er hat Ende der 80er als Ingenieur in Odessa gearbeitet und sich dort in meine Mutter verliebt. Sie war Krankenschwester und folgte ihm nach Deutschland. Die beiden sind seit 30 Jahren verheiratet, leben in der Nähe von Heidelberg und ich habe vier Geschwister, alle jünger als ich. Meine kleinste Schwester ist tatsächlich im Alter deiner Tochter.“
„Okay, letzte Frage, versprochen – erzähl mir was über deine Tattoos.“
„Wie soll ich das beantworten? Was willst du wissen?“
„Ich kenne Thomas ein bisschen. Eine seiner Ängste ist, dass Leonie sich auch tätowieren lässt und du der Grund dafür …“
Oh oh, die Blicke, die die beiden austauschten, ließen darauf schließen, dass ich mit dieser Frage wohl zu spät kam.
„Wo und wie groß?“, wollte ich dann wissen.
Leonie hatte den Anstand, ein bisschen rot zu werden.
„Am linken, inneren Oberarm – keine fünf Zentimeter.“
„Darf ich es sehen?“ Zugegeben, das war die reine Neugier, die aus mir sprach!
Sie zog sich wortlos ihr Shirt über den Kopf und ließ mich ihr Tattoo begutachten. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass auch Juri seinen Pulli auszog – okaaaayyyyy, das mit dem „nicht muskelbepackt“ nahm ich zurück, denn der Oberkörper schien nur aus Muskeln zu bestehen!
Er zwinkerte mir zu und zeigte mir seinerseits seinen rechten, inneren Oberarm.
Bei beiden sah man an der jeweils identischen Stelle einen Äskulapstab tätowiert, wobei Juris Schlangenende in einem geschwungenen „L“ und Leonies in einem „J“ endete.
Ich musste schlucken, diese Geste, dieses Symbol dieser beiden jungen Menschen beeindruckte mich. So etwas hatte nie jemand für mich oder mit mir gemacht. Es war süß, unschuldig, kein Wink mit dem Zaunpfahl, keine extreme Demonstration und doch – für Eingeweihte – ein klares Bekenntnis zu ihrer Profession und Liebe zueinander. Ich war eigentlich nicht besonders nah am Wasser gebaut, aber diese Aktion der beiden trieb mir die Tränen in die Augen.
Ich fuhr über Leonies Tattoo – bei Juri traute ich