Katia Weber

Dutzendgeschöpfe


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und heulen. Du hast das doch alles angezettelt.“

      Seine Stimme klingt gar nicht wütend, eher erschöpft und müde.

      „Natürlich darf man heulen, wenn man ein schlechtes Gewissen hat“, gebe ich patzig zurück.

      Meine Nase läuft wie verrückt.

      „Da hast du auch wieder recht“, entgegnet Arne seufzend.

      Wir hielten unsere kleine Lügengeschichte noch ein paar Wochen aufrecht, dann rief ich bei meiner Mutter an und berichtete, dass es mit Arne und mir doch nicht geklappt hatte, wir aber noch gute Freunde seien und auch weiter zusammen wohnen wollten. Ich spürte, dass meine Mutter ein wenig enttäuscht war, aber sie hörte aufmerksam zu und erklärte zuletzt, dass „die Dinge“ nicht ohne Grund passierten und dass es deshalb wohl so am besten sei.

      Das denke ich auch. Alles hat einen Sinn.

      Vielleicht war es auch diese Einstellung, die meiner Mutter dabei half, ein überraschendes Geständnis meines Vaters zu verdauen. Eines Tages fasste er all seinen Mut zusammen und eröffnete ihr, dass er sich schon seit ein paar Jahren zu Männern hingezogen fühlte. Ich weiß nicht, was ihn dazu bewog und wie er es genau anstellte. Offenbar verhielt er sich jedoch taktvoll, sodass ihn meine Mutter nicht verteufeln konnte. Im ersten Moment war sie natürlich vor den Kopf gestoßen, aber ich habe auch den Eindruck, dass ihr während des Gesprächs klar wurde, dass sie meinen Vater schon länger nicht mehr liebte. Sie scheint jedenfalls nicht unglücklich darüber zu sein, dass sie und mein Vater sich scheiden lassen und das Reihenhaus verkaufen werden. Das eintönige Vorstadtleben hatte sie sowieso satt, bemerkte sie mir gegenüber einmal ganz beiläufig, in einem Nebensatz. In diesem Punkt hat meine Mutter mich, genauso wie meinen Vater, wirklich überrascht. Sie hat inzwischen einen neuen Lebensgefährten, der genauso viel lacht wie sie und gern verreist. Ich habe das Gefühl, dass sie richtig glücklich ist.

      Ich hingegen war nach jenem Vorfall eine ganze Weile ziemlich unglücklich. Nach ein paar Wochen wurde mir bewusst, dass ich mir und Arne nicht länger etwas vormachen konnte, und gestand ihm, dass ich mich in ihn verliebt hatte, obwohl ich wusste, dass es hoffnungslos war. Arne nahm mich in den Arm und tröstete mich eine Weile. Dann kamen wir gemeinsam zu dem Schluss, dass die Situation, in der ich mich befand, an allem Schuld war: Ich hatte keine vernünftige Arbeit, keine Beziehung, kein soziales Netz, über das ich jemand hätte kennen lernen können. Und dann war da Arne, immer in meiner Nähe, meine engste Bezugsperson, schwul und unerreichbar und deshalb eine ideale Projektionsfläche für meine unerfüllten Wünsche.

      Mir wäre es zwar lieber gewesen, wenn er gesagt hätte, dass er mich auch liebte, aber ich gab mich mit seiner Freundschaft zufrieden. Das war immer noch besser als nichts.

      Danach ging unser WG-Leben ganz normal weiter. Arne und ich redeten nur noch ein einziges Mal über den chaotischen Samstagvormittag, der mir und meinem Vater die Augen geöffnet hatte. Arne erzählte mir, dass ein Freund von ihm meinen Vater in einem Chat-Forum für Schwule kennen gelernt hatte. So kam auf Umwegen der erste Kontakt zustande. Als sich Arne bereits in ihn verliebt hatte, begriff er, dass mein Vater nicht aus seinem gutbürgerlichen Leben ausbrechen würde. Also entschied er sich schweren Herzens, die Angelegenheit zu vergessen und irgendwie weiterzumachen.

      Da kam ich ins Spiel. Ein anderer schwuler Bekannter von Arne hatte schon mal mit mir für einen Werbekatalog gemodelt. Er gab Arne meine Nummer.

      „Aber der gleiche Nachname“, meinte ich verwundert, „das wäre doch schon ein ganz schöner Zufallen gewesen, oder? Das hätte dir doch auffallen müssen.“

      Arne grinste verlegen.

      „Naja. Dein Papa hat natürlich ein Pseudonym benutzt.“

      „Was denn für ein Pseudonym?“, fragte ich erstaunt.

      Er nannte es mir und ich musste grinsen. Typisch Papa.

      Seitdem mein Papa sein Coming-Out hatte, fühle ich mich ihm näher. Ich weiß auch nicht so genau, warum. Aber jetzt sehe ich ihn an und habe das Gefühl, dass ich die komplette Person sehen kann. Endlich. Irgendwann erzählte er mir, dass er es noch einmal bei Arne versucht hatte, aber Arne hatte inzwischen schon einen neuen Schwarm. Die Liebe kommt und geht.

      „Feigheit ist unsexy“, hatte Arne mir gegenüber einmal bemerkt.

      Ich glaube, ich weiß, was er meint.

      Jedenfalls hat mein Vater angefangen, sich mit Männern zu treffen. Er ist nicht mehr so oft schlecht gelaunt, schämt sich aber immer noch ein bisschen dafür, dass er jetzt keine Hete mehr ist. Ich versuche immer, ihm klarzumachen, dass er nicht so streng mit sich sein soll und dass Schwulsein etwas ganz Normales ist, aber ich erwische mich dabei, dass ich selbst nicht ganz daran glaube. Eigentlich finde ich es eigenartig, einen schwulen Vater zu haben. Es ist so, als wenn jemand, den man zu kennen glaubte, plötzlich sagt:

      „Du, ich heiße gar nicht Tina, sondern Carmen und bin auch nicht aus Bochum, sondern aus Celle. Meine Eltern sind aus Peru, nicht aus Solingen und mein Lieblingsessen ist nicht Lasagne. Ich hasse Lasagne.“

      So in der Art ist es, aber noch viel, viel verwirrender.

      Kurt

      30.9.2003

      Während Frau Schmidt die zweite Tasse Kaffee mit ruhiger Hand an ihre trockenen Lippen führt, überlegt sie, wie weiter vorzugehen ist. Soll sie den Krankenwagen jetzt gleich rufen oder noch ein wenig warten?

      Einfach nur, um ganz sicher zu sein, denkt sie.

      Der Minutenzeiger schiebt sich langsam vor und knackt dabei. Gleich ist es halb elf. Frau Schmidt überlegt, wie lange sie jetzt schon so da sitzt. Eigentlich kann es nicht mehr als eine Stunde sein, aber es fühlt sich viel, viel länger an. Die Enge in ihrem Hals, die sie bis eben noch gespürt hat, ist verschwunden. Sie schluckt noch einmal. Ja, alles wieder frei. Dann fällt ihr Blick auf den gedeckten Frühstückstisch. Sie hat ihr Brötchen nicht einmal angerührt. Es liegt auf dem Teller und sieht irgendwie traurig aus.

      „Na, komm“, sagt Frau Schmidt, „Dich ess ich noch, bevor wir den Notarzt rufen.“

      Frau Schmidt fragt sich, ob das jetzt immer so sein wird: dass sie sich vor lauter Einsamkeit mit den Lebensmitteln unterhält.

      Sie schneidet das Brötchen auf und lässt sich bei der Auswahl des Aufschnitts viel Zeit, dabei hat sie eigentlich kaum Auswahl: Es gibt nur gekochten Schinken und Schmierkäse. Frau Schmidt überlegt hin und her, dann entscheidet sie sich dazu, einfach beides zu nehmen, auch wenn es nicht zusammenpasst.

      Heute schmeckt alles gut.

      Der Minutenzeiger schiebt sich auf die 12 vor und der dunkelbraune Holzkuckuck springt aus der Uhr. Er gibt schon lange kein Geräusch mehr von sich, aber die Federn quietschen. Gedankenverloren stellt Frau Schmidt fest, wie spät es ist. Sie hätte schwören können, dass es gerade noch halb elf war.

      „Vielleicht verliere ich ja meinen Verstand“, sagt sie laut in den stillen Raum hinein.

      Es ist, als würden der dicke, alte Teppichboden und die Möbel ihrer Stimme alle Kraft rauben, sodass nur ein kleines Piepsen herauskommt. Wie bei einer Maus. Aber mit einem Blick auf die leblosen Beine stellt Frau Schmidt sachlich fest, dass die Zeiten ihres Mausdaseins endgültig gezählt sind. Sie rutscht mit dem Stuhl zurück, tupft ihre blutleeren Lippen mit einer bestickten Stoffserviette ab und steht mit einem Ruck auf. Sie fühlt sich eigenartig beschwingt, als sie um den Tisch herumgeht, um sich den kuriosen Anblick genau einzuprägen.

      Da liegt er also.

      Seine toten Beine hängen über den Rand der Sitzfläche seines Stuhls, mit dem er, einfach so und urplötzlich, nach hinten übergekippt ist. Sein linker Fuß steckt sogar noch in seinem grauen Filzpantoffel, der andere ist mit der Sohle nach oben unter den Tisch gefallen. Das Brötchen, auf dem Kurt noch vor zwei Stunden herumgekaut hat, ist ihm beim Sturz aus der Hand geglitten. Es liegt neben dem rechten Pantoffel, und zwar mit der beschmierten Seite nach oben. Das freut Frau Schmidt. Die Scheibe