Katia Weber

Dutzendgeschöpfe


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Rahmen im Matsch lag und sich nicht rühren konnte. Ein stechender Schmerz machte sich in ihrer Hüfte breit.

      Irgendwann konnte sie ihre Lunge mit ausreichend Luft füllen, um zu schreien:

      „Axel, hilf mir!“

      Axels Lachen schien plötzlich wie festgefroren. Er hielt mitten in der Bewegung inne und erstarrte für einen winzigen Augenblick. Dann eilte er zu ihr und sie konnte sehen, dass er Angst hatte.

      Henni hatte ihm ihr Taschengeld für den nächsten Monat angeboten, falls er ihr beibringen würde, wie sie auf dem Rad das Gleichgewicht halten konnte. Jetzt lag sie also da und konnte sich nicht mehr rühren.

      „Was ist denn mit dir?“, rief Axel aufgelöst, nachdem er das Rad von Hennis Körper weggezogen hatte.

      Seine großen, blauen Augen waren weit aufgerissen und sein dürrer Hühnerhals war mit roten Flecken übersät.

      „Ich kann meine Beine nicht mehr spüren“, antwortete Henni kläglich.

      Von der Hüfte abwärts hatte sie keinerlei Gefühl mehr in den Beinen.

      „Hol Hilfe, Axel!“, rief sie dann und Axel stürmte wie von Sinnen los.

      Es dauerte nicht lang, da ertönten schwere Schritte, begleitet von dem hektischen Tapsen blanker Fußsohlen. Im Sommer trug Axel fast nie Schuhe.

      „Ich hab nix gemacht, ehrlich!“, beteuerte Axel aufgelöst.

      Sein Bruder Kurt antwortete mit einem wenig überzeugten Brummen. Er kniete neben Henni nieder und sie blickte in sein großes rotes Gesicht.

      „Du spürst die Beine nicht mehr?“, fragte der große Mann.

      Natürlich war er mit seinen 21 Jahren eigentlich noch jung, aber Henni kam er steinalt vor. Seine Haut war großporig und verschwitzt und auf der Nase hatte er eine ganze Reihe Mitesser. Seine Statur erinnerte sie an ihren Vater und an ihren Onkel und sie traute sich nicht, ihren Mund aufzumachen, weil sie so viel Respekt vor ihm hatte. Deshalb nickte sie nur schwach.

      Kurt schien kurz zu überlegen, dann seufzte er.

      „Dann werde ich dich wohl zum Doktor tragen müssen.“

      Er hob Henni auf, als wenn sie eine Feder wäre. Auf dem gesamten Weg bis zum Haus des Doktors sagten weder er noch sie noch Axel auch nur ein einziges Wort.

      Axel starb an einem sonnigen Sonntagmorgen. Es war ein fürchterlicher Unfall. Er war deshalb so fürchterlich, weil es keinen Schuldigen gab. Man konnte niemanden verantwortlich machen und auf niemanden außer dem lieben Gott wütend sein. In der Nacht zuvor hatte ein Gewitter getobt und eine kräftige Windböe hatte ein paar Schindeln vom Dach gerissen. Da Axel ein Fliegengewicht und sehr behände war, hatte er sich sofort bereiterklärt, aufs Dach zu klettern und neue Schindeln aufzulegen. Kurt erzählte Henni später, dass er ihm noch zugerufen hatte, gut aufzupassen. Die Dachpfannen waren nass. Viele von ihnen waren schon sehr alt und mit glitschigem Moos überzogen. Axel hatte Kurt bloß zugegrinst und bemerkt, dass er ein ziemlicher Hosenscheißer wäre, und sie hatten gelacht, als Axels dürre, schmutzige Finger plötzlich den Halt verloren. Er hatte nicht einmal geschrien, als er hintenüber vom Dach stürzte und reglos auf dem Rücken liegen blieb. Das gespenstische Knacken, meinte Kurt, würde er niemals vergessen.

      Die Beerdigung war so, wie alle Beerdigungen von Kindern waren: unendlich traurig und in einer Hoffnungslosigkeit getränkt, die einen in die Tiefe zieht. Axels und Kurts Mutter hatte einen Nervenzusammenbruch am Grab und es regnete in Strömen, als der Sarg in das Loch in der Erde hinabgelassen wurde. Als Henni eine Handvoll Matsch auf den kleinen Sarg fallen ließ, den Kurt für seinen Bruder gezimmert hatte, schwor sie sich, nie wieder jemanden zu lieben.

      Henni hatte immer gewusst, dass sie Axel einmal heiraten würde. Sie hatte es gewusst. Sie hatte gewusst, dass er Maler und sie Krankenschwester werden würde. Sie hatte gewusst, dass sie drei Kinder haben würden, zwei Jungs mit blondem und ein Mädchen mit schokobraunem Haar, genau wie der Vater. Henni hatte gewusst, dass Axel mit seinen Kindern Fußball und Fangen gespielt und ihnen das Radfahren und vielleicht sogar das Schwimmen beigebracht hätte.

      Sie saß auf der Bank neben dem frisch aufgeworfenen Grab und musste weinen.

      Wenn ihr der liebe Gott damals das Gefühl in den Beinen für immer genommen hätte, vielleicht hätte er Axel ja verschont?

      Sie betrachtete ihre aufgeschürften Knie unter dem grauen Wollrock und ließ sie hin und her baumeln, so wie Axel es immer getan hatte. Dann beschloss sie, keine Krankenschwester zu werden und auch keine Kinder zu bekommen.

      Kurt war eine Notlösung. Auch das hatte Frau Schmidt immer gewusst. Das hatte sie ihm sogar gesagt, als er um ihre Hand anhielt. Kurt hatte daraufhin einen Moment lang gedankenverloren zur Seite geblickt, und Frau Schmidt war bewusst geworden, wie fehl am Platz er wirkte, wie wenig es zu ihm passte, dass er sich vor einer Frau auf ein Knie niederließ und versuchte, den Konventionen zu entsprechen. Dann hatte er gefragt:

      „Willst du mich trotzdem heiraten?“

      Und Frau Schmidt hatte gesagt:

      „Also gut.“

      Auf dem Standesamt wurde aus dem „Also gut“ ein leises „Ja“.

      Kurt fragte nicht einmal danach, ob Frau Schmidt gern Kinder hätte. Er ging morgens in die Werkstatt und kam erst spät abends wieder. Er verdiente ganz gut, ließ Frau Schmidt weitestgehend in Ruhe und willigte ein, als sie ihn darum bat, mit ihr in die Stadt zu ziehen. Frau Schmidt arbeitete erst in einer Buchhandlung und später in der städtischen Bücherei. Einmal im Monat fuhren sie und Kurt gemeinsam aufs Land, um Kurts Mutter zu besuchen und ein Lämpchen auf Axels Grab anzuzünden. Der Friedhof war der einzige Ort, an dem sich Frau Schmidt ihrem Mann ein wenig nah fühlte. Manchmal saßen sie nebeneinander auf der Bank, auf der sich Frau Schmidt damals geschworen hatte, keine Kinder zu bekommen, manchmal standen sie Seite an Seite vor der Grabstelle, aber wenn sie auf dem Friedhof waren, berührten sie sich nie. Es war so, als bestünde zwischen ihnen ein stillschweigendes Abkommen.

      Frau Schmidt vergaß den 10. Hochzeitstag, Kurt den 20. Sie vereinbarten, dass sie ein großes Fest feiern wollten, falls sie beide an den 25. Hochzeitstag denken würden. Als der große Tag schließlich gekommen war, hatte Frau Schmidt keine Lust auf ein Fest und sagte deshalb nichts. Sie hatte das Gefühl, dass es Kurt ganz ähnlich ging.

      1994 war das Jahr, in dem Kurt wegen seiner Rückenprobleme in Frührente gehen musste und Frau Schmidt ihren Ehering verlor. Eines Morgens stellte sie fest, dass er nicht mehr an ihrem Finger steckte und auch nicht auf seinem angestammten Platz auf der Badezimmerkonsole lag. Sie konnte sich aber auch nicht daran erinnern, ihn abgestreift zu haben. Bei der Suche gab sie sich nicht allzu viel Mühe. Nach ein paar Minuten zuckte sie die Achseln und gab auf. Kurt schien es nicht zu bemerken. Er sagte jedenfalls nichts.

      Ein paar Monate später kam Frau Schmidt von der Arbeit und merkte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie schob die Tür auf, stutzte und überlegte einen Moment lang, dass sie sich in der Etage geirrt haben musste. Dann warf sie einen Blick auf den Schlüssel in ihrer Handfläche. Damit hatte sie ganz ohne Zweifel gerade das Schloss geöffnet und vor ihr lag ganz ohne Zweifel der Flur, in dem sich seit nunmehr 23 Jahren kaum etwas verändert hatte.

      „Kurt? Bist du da?“, rief Frau Schmidt.

      Er hatte direkt hinter der Tür gestanden.

      Als er sich so plötzlich vor ihr aufbaute, fuhr Frau Schmidt in sich zusammen.

      „Großer Gott, hast du mich erschreckt!“

      Es war schon eine Weile her, dass sie ihn so bewusst wahrgenommen hatte. Sie hatte beinahe vergessen, was für ein beeindruckend großer Mann er war. Diesen Gesichtsausdruck kannte sie allerdings noch nicht. Kurts Körper und Haltung hatten sich in den letzten zehn, zwölf Jahren kaum verändert, aber sein Gesicht sah mit einem Mal ganz fremd aus. Die Haut wirkte eigenartig fahl und grau und sein Mund war blutleer. Frau Schmidt kniff die Augen zusammen.

      „Was ist los mit dir?“,