Katia Weber

Dutzendgeschöpfe


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und Frau Schmidt hat schon mehrmals darüber nachgedacht, den Schinken zu entfernen, damit niemand auf die Idee kommen könnte, sie habe ihren verstorbenen Mann mit einer Scheibe Fleisch garniert. Sie hätte nicht im Traum daran gedacht, ihn mit irgendetwas zu bewerfen. Schon gar nicht mit Lebensmitteln.

      Frau Schmidts Blick fällt auf Kurts starre, graue Hände. Sie liegen neben seinem massigen Oberkörper auf dem Teppichboden, die Handflächen zeigen nach oben. Sie sind rau und schwielig. Frau Schmidt kann sich nicht daran erinnern, dass sie jemals anders ausgesehen haben. Kurt trägt den Ehering am Zeigefinger der rechten Hand, weil er sich das oberste Glied des Ringfingers als junger Mann mit der Säge abgeschnitten hat. Er war Schreiner gewesen. Von ihm stammte der Tisch, an dem sie bis eben zusammen gefrühstückt hatten, und er hatte die vier Esszimmerstühle gefertigt, von denen jetzt einer auf dem Boden liegt. Das Stummelchen seines Ringfingers sieht ganz besonders grau aus und sein Anblick ruft in Frau Schmidt eine kurze, aber heftige Reaktion hervor: Sie holt tief Luft und schluchzt.

      So viele Jahre, denkt sie.

      Dann versteift sich ihr Nacken und sie kehrt wieder in jene kalte, starre Haltung zurück.

      Wie viele Jahre waren es eigentlich wirklich, fragt sie sich und blinzelt.

      Schließlich kommt es immer auf die Zählweise an. Zählt man nur die Jahre, in denen man glücklich zusammen gewesen ist? Geht man von dem Tag aus, an dem man einander zum ersten Mal gesehen hat? Oder beginnt die Zeitrechnung einer Beziehung in dem Moment, in dem man begreift, dass man sich verliebt hat? Das wäre schlecht, denkt Frau Schmidt. Verliebt war sie in ihrem ganzen Leben nur ein einziges Mal gewesen. Aber nicht in Kurt.

      Kurts jüngerer Bruder hieß Axel.

      Axel und Frau Schmidt, deren Nachname damals noch Kohlhaas lautete, waren Nachbarskinder und in demselben Alter. Sie gingen jeden Morgen gemeinsam zur Schule. Unterwegs drückte Frau Schmidt, die von ihren Freundinnen Henni gerufen wurde, Axel immer einen Bleistift in die Hand. Vor der Schule trennten sich ihre Wege: Die Jungs hatten in einem anderen Gebäude Unterricht als die Mädchen und durften auch auf dem Schulhof nicht miteinander spielen. Dafür unterhielten sich Axel und Henni immer auf dem Nachhauseweg. Morgens nicht. Da war Axel immer noch viel zu müde und höchstens in der Lage, nach ein paar Steinchen zu treten. Und dann war da eben noch dieses Bleistiftritual.

      Henni hätte ihm den Stift gern geschenkt, aber ihre Mutter achtete sorgsam darauf, dass sie all ihre Schulsachen wieder mit nach Hause brachte. Es war ihr wichtig, dass Henriettchen gut auf Bleistifte, Papier und Hefte aufpasste. Also spitzte Henni den Bleistift jeden Nachmittag, wenn sie ihre Hausaufgaben machte, um ihn am nächsten Morgen Axel zu überlassen. Er schämte und freute sich und verlor nie ein Wort darüber, dass sich Henni um ihn kümmerte.

      Sie hatte damals schon das Gefühl, dass er sie nicht wirklich ernst nahm.

      Henni war eine gute Schülerin. Das Lernen bereitete ihr Freude und sie brachte gute Noten nach Hause. Bei Axel war das etwas anders. Er erzählte manchmal, wie schwer es ihm fiel, dem Unterricht zu folgen. Ihr war schön öfter aufgefallen, dass Axel gern die Beine baumeln ließ oder mit den Knien auf und ab wippte, wenn sie am Nachmittag auf dem Weidezaun hockten und Grashalme kauten. Das machte Henni immer ganz rasend.

      „Wenn der Herr Walter das sieht, guckt er mich auch immer ganz streng an. Dann höre ich sofort auf, aber ein paar Minuten später fangen die Beine einfach wieder an zu wippen. Das ist wie Zauberei“, erklärte Axel grinsend und präsentierte seine große Zahnlücke.

      Manchmal erzählte er auch andere Sachen. Zum Beispiel, dass Herr Walter ihn hin und wieder dabei ertappte, wie er stundenlang aus dem Fenster starrte. Der Lehrer ermahnte ihn dann immer und sagte:

      „Axel, du Träumer, vom Glotzen wird man nicht schlau.“

      „Und was hast du da gemacht?“, fragte Henni ängstlich.

      „Na, ich habe mich kerzengerade hingestellt und gesagt: Recht haben Sie, Herr Walter. Und dann hat der Herr Walter geschmunzelt.“

      Niemand konnte Axel wirklich böse sein.

      Axel konnte gut zeichnen. Er malte gar nichts Bestimmtes, sondern kritzelte mehr so vor sich hin. Manchmal entstanden aus diesen Kritzeleien die abenteuerlichsten Figuren. Sie hatten mehrere Köpfe und konnten Feuer spucken. Einmal saßen sie unten im Heuschober auf dem Boden und Axel malte eine scheußliche Fratze mit funkelnden Augen und einem weit aufgerissenen Maul. Es war ein Höllentier. Henni fuhr zusammen, als sie es sah.

      „Axel“, rief sie aus, „das ist ja scheußlich!“

      Axel kicherte und enthüllte die riesige Lücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen. Dann verstaute er das Blatt Papier, das ihm Hans geliehen hatte, in seiner Tasche.

      „Du bist ja ein Angsthase“, kicherte er weiter und Henni ärgerte sich so sehr, wie sie sich noch nie in ihrem ganzen Leben geärgert hatte. Sie zog eine Schnute und drehte den Kopf zur Seite, damit sie Axel nicht mehr angucken musste.

      Aber dann hörte sie, wie Axel das Papier wieder auseinanderfaltete und zu kritzeln begann. Die Bleistiftmine fuhr zunächst mit einem ganz leichten Kratzen über das aufgeraute Papier, vollführte jedoch alsbald dem Klang nach die heftigsten Manöver. Henni hörte lange Striche, bei denen der Stift fest aufgedrückt wurde, und dann das leise, flächige Hin- und Herhuschen von Schraffierungen. Sie platzte fast vor Neugier, aber der Stolz war stärker: Sie starrte weiter stur in die andere Richtung.

      Schließlich schob Axel das zerknitterte Blatt Papier über den Boden zu Henni hinüber. Als ihr Blick auf das Motiv fiel, blieb ihr der Mund vor Überraschung offen stehen. Sie ergriff das Bild mit beiden Händen und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

      „Das bist du“, flüsterte Axel, aber das war vollkommen überflüssig.

      Henni war, als würde sie in einen Spiegel blicken.

      Wenn man noch ein kleines Kind ist, kann man durchaus verliebt sein, man weiß bloß nicht, dass man es ist. Henni hatte keinen blassen Schimmer, was mit ihr los war, als sie in den folgenden Tagen abwesend durch die Gegend stolperte, Teller und Tassen beim Abtrocknen fallen ließ und auf dem Weg in den Ort in jede einzelne Pfütze und in jeden Kuhfladen hineintrat, ohne es auch nur zu bemerken. Ihre Mutter machte sich Sorgen:

      „Henni“, sagte sie, „du bist doch nicht etwa krank?“

      Eine Cousine war viele Jahre zuvor an der Schwindsucht gestorben und Hennis Mutter suchte andauernd bei ihren Kindern nach eventuellen Symptomen. Manchmal erfand sie sie einfach.

      Henni zuckte nur die Achseln und blickte ihre Mutter gleichgültig an. Sie kaute lustlos auf einer Scheibe Brot herum, ließ den Kopf hängen oder blickte aus dem Fenster. Ihre Augen hielten sich manchmal an dem alten Apfelbaum mit dem gespalteten Stamm fest, aber sie sah ihn nicht wirklich. Wenn sie zuhause war, hatte sie keine Energie und fühlte sich wie eine leere Hülle ohne Kern.

      Sie lebte für die kurzen Momente, in denen sie mit Axel allein war.

      Als Axel und Henni 13 Jahre alt waren, schrieb er ihr den ersten und einzigen Liebesbrief ihres Lebens. Er bestand aus zwei Sätzen und lautete wie folgt:

      „Ich bin so froh, dass es dich gibt. Alles andere ist schlimm, aber wenn du da bist, ist nichts mehr schlimm.“

      Axel war kein Dichter, aber wenn Frau Schmidt sich seinen Brief ansieht, kommen ihr heute noch die Tränen.

      Das Einzige, was Frau Schmidt von ihrer ersten Begegnung mit Kurt noch in Erinnerung geblieben ist, ist sein Geruch: Kurts Arme rochen warm und erdig. Erst später verstand sie, dass ihm der Duft nach Holz und Sägespänen angehaftet hatte, weil er gerade aus der Werkstatt gekommen war.

      Kurt war sieben Jahre älter als Axel. Er war ein Baum von einem Mann und hatte ein großes, rotes Gesicht mit dicken Backen und vollen Lippen. Er war nicht hässlich, aber auch nicht schön. Henni fand, dass er gesund aussah und irgendwie zum Anbeißen, fast so wie ein Apfel. Das taten damals nicht viele junge Männer.

      Dass sie die Gelegenheit hatte, an Kurts Armen zu riechen, war einem dummen