Katja Piel

Kuss der Wölfin - Trilogie (Fantasy | Gestaltwandler | Paranormal Romance | Gesamtausgabe 1-3)


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warm und lebendig an. Manchmal war sie verwundert, dass der Schnee um sie herum nicht schmolz. Ihre Kutte behielt sie trotzdem an, obwohl sie nach Gefängnis, Angst und Tod stank. Auch das war neu: Gerüche, die so intensiv waren, dass ihr beinahe schwindelig davon wurde. Sie roch Wild, wenn es auf der Suche nach Futter in weitem Abstand an der Höhle vorbeikam. Sie roch die Mäuse unter dem Schnee, und sie roch es, wenn Raffaelus und Marina sich auf den Fellen vergnügten.

      Außerdem verspürte sie einen Hunger wie noch nie in ihrem Leben. Das Rudel – wie Raffaelus seine Gruppe nannte – versorgte sie mit gebratenem Fleisch, das sie begierig hinunterschlang, und dennoch träumte sie manchmal vom rohen, heißen Fleisch eines Rehs oder Hirsches und von pulsierendem Blut.

      Die Wunde an ihrer Schulter heilte schneller, als sie es für möglich gehalten hätte. Bereits am zweiten Tag war alles verschorft, und sie spürte, wie unter der dunklen Kruste prickelnd neue Haut entstand. Was blieb, war die Angst. Roderik und Utz fürchtete sie am meisten. Sie sahen manchmal mit grün glitzernden Augen zu ihr hinüber, und Utz rieb sich manchmal dabei sein pralles Geschlecht. Einmal hatte er versucht, ihr den Kittel vom Leib zu ziehen. Raffaelus' Faustschlag hatte ihn gegen die Wand geschleudert, wo er eine Weile reglos liegengeblieben war. Seitdem hielt er sich fern, aber seine Blicke verfolgten sie. In ihrer Tiergestalt waren die Männer noch beängstigender, riesige, unnatürlich aussehende Bestien mit Muskelpaketen unter dem struppigen Fell. Die Vorderläufe waren länger als die Hinterläufe, was ihnen stets eine bedrohliche Aufrichtung verlieh. Sibil hatte auch schon gesehen, dass sie sich nur zur Hälfte verwandelten, Tiermenschen mit haarigen Armen und dämonischen Fratzen. Sicher waren sie alle die Buhlen des Teufels, und Sibil hatte ein bitteres Lachen in den Mundwinkeln, wenn sie an die Bucklige, die Alte und die Rothaarige dachte, die als Hexen verbrannt wurden, während hier die Ausgeburten der Hölle durch den Wald hetzten.

      Sie fragte sich, ob sie nun auch in der Lage war, sich zu verwandeln, aber der Gedanke war so schrecklich, dass sie niemanden zu fragen wagte.

      Ihr altes Leben lag so weit hinter ihr, dass es ihr vorkam wie ein unwirklicher Traum. Katharina und der Vater mussten mittlerweile tot sein. Hatte man sie vorher gefoltert? Vielleicht waren sie klug genug gewesen, sofort zu gestehen. Sibil versuchte, Trauer zu empfinden, aber ihr Verstand weigerte sich, zu begreifen, was alles geschehen war.

      „Möchtest du essen?“ Sie schrak herum. Hinter ihr stand Adam und lächelte entschuldigend, während er ihr ein Stück gebratenes Fleisch mit Knochen hinhielt. Es musste wohl ein Kaninchen gewesen sein.

      „Iss, sonst nehmen es sich die anderen.“ Dankbar griff sie zu. Sie pflückte das mürbe Fleisch mit den Fingern vom Knochen und stopfte es sich in den Mund. Adam sah ihr zu. Er war der jüngste und schwächste im Rudel, und sie mochte ihn mit seiner ruhigen Art. Nur dass er wie die anderen nackt herumlief, wenn er sich in Menschengestalt bewegte, irritierte sie.

      „Warum tragt ihr keine Kleidung?“, fragte sie kauend.

      „Brauchen wir nicht“, sagte Adam. „Wir frieren nicht, das hast du sicher auch schon gemerkt.“

      „Ja, aber... im Sommer frieren die Menschen auch nicht, und sie tragen trotzdem Kleidung. Einfach weil es sich so gehört.“ Adam zuckte mit den knochigen Schultern. „Wir sind keine Menschen. Deshalb gelten die Regeln der Menschen für uns nicht.“

      „Aber ihr wart alle mal welche?“

      „Ja. Aber mit dem Kuss legst du dein Menschsein ab. Du bist jetzt ein Tier in menschlichem Körper.“ Sibil fasste sich an die heilende Schulter. „Du meinst...?“

      „Ja, genau. Du hast den Kuss empfangen und bist nun eine von uns. Wenn der nächste Vollmond kommt, wirst du deine erste Wandlung erleben.“

      „Tut das weh?“

      „Nein. Es ist nur sehr ungewohnt. Nach deiner ersten Wandlung kannst du dich immer verwandeln, wenn es dir beliebt. Du wirst dich schnell daran gewöhnen.“

      „Wie lange bist du schon... so?“

      Adam lächelte schüchtern. „Seit vier Wintern. Ich war noch ein Junge, als Raffaelus mich fand. Mein Vater hatte mich bei einem Gerber in die Lehre gegeben, der mich schlug und mir nichts zu essen gab. Ich bin ausgerissen und habe versucht, mich durchzuschlagen. Er hat mich im ersten Winter vor dem Erfrieren gerettet.“

      „Wie mich.“

      „Ja.“

      „Und du wirst dein Leben lang hier bleiben?“

      „Ich weiß es nicht. Ich gehe, wohin Raffaelus geht. Er ist mein Anführer.“

      „Aber willst du denn keinen Beruf ergreifen? Eine Frau und Kinder haben?“

      „Du denkst noch wie ein Mensch.“ Sibil nickte. „Das gibt sich mit der Zeit“, sagte Adam.

      Am Abend beobachtete sie, wie Raffaelus hinüber zu Adams Lager ging. Er drehte Adam auf den Bauch und legte sich auf ihn, und binnen kurzer Zeit hatte er ihn mit seinen muskulösen Armen gepackt und an sich gezogen und stieß in ihn hinein, wie er es auch mit Sibil und Marina getan hatte. Sibil war höchst erstaunt. Sie hatte nicht gewusst, dass zwei Männer das miteinander tun konnten. Adam schien das Geschehen zu genießen, er stöhnte leise und verschränkte seine Finger mit denen von Raffaelus. Sibil sah, wie Raffaelus' Gesicht sich verzerrte. Mit einem lustvollen Schrei verausgabte er sich in Adam und brach dann keuchend auf dem Rücken des Jüngeren zusammen. Einige Atemzüge später richtete er sich jedoch schon wieder auf, zog sich aus Adam zurück und verließ das Lager. Dieser sah ihm verträumt hinterher, während er sein Geschlecht heftig rieb. Sibil verspürte einen Stich des Bedauerns. Sie hätte sich dem Jungen gerne angeboten und herausgefunden, ob auch er mit seinem schlanken, jugendlichen Körper dieses wunderbare Gefühl zwischen ihren Schenkeln hervorrufen konnte, so wie es Raffaelus in ihrer ersten Nacht getan hatte. Doch die Angst und auch Reste der menschlichen Scham hielten sie zurück. Raffaelus beanspruchte jeden im Rudel, den er wollte, und vielleicht würde er wütend werden, wenn sie seine Wege kreuzte. Nicht nur vielleicht, sicher sogar. Sie sah zu ihm hinüber, wie er sich neben Marina auf sein Lager fallen ließ. Sie nahm ihn in den Arm und küsste ihn zärtlich.

      Allein in ihrer Ecke, schlief Sibil ein.

      Am nächsten Tag brachte Roderik einen toten Mann ins Lager. Die Leiche war angezogen wie ein Köhler, die Kleidung blutverschmiert. Roderik hatte Blut im Gesicht und ein irres Glitzern in den Augen. Vor der Höhle ließ er die Leiche fallen und baute sich stolz daneben auf.

      „Frühstück“, sagte er und grinste mit abgebrochenen Zähnen wie ein Wahnsinniger. Raffaelus stieß ihn grob beiseite und verwandelte sich. Gleich darauf stürzte er sich auf den toten Mann, zerfetzte mit seinen messerscharfen Klauen die Kleidung und grub seine Fangzähne in den weichen, weißen Bauch des Mannes. Es gab ein Geräusch, als würde alter, mürber Stoff reißen, als die Haut des Toten sich öffnete. Blut ergoss sich in den Schnee.

      „Hm“, machte Marina hinter Sibil. „Noch ganz frisch.“ Sie verwandelte sich ebenfalls und umstrich die Futterstelle. Roderik, mittlerweile auch in Tiergestalt, näherte sich Raffaelus knurrend und wurde von diesem grob verscheucht. Während Raffaelus' Aufmerksamkeit auf Roderik gerichtet war, sprang Marina heran und riss einen Fetzen Fleisch aus der Leiche. Sibil tauchte unter Utz hinweg, der sich ebenfalls näherte, stürzte ins Unterholz und erbrach sich heftig. Als nichts mehr kommen wollte außer bitterer Galle, lehnte sie sich erschöpft an einen Baum. Die grausigen Bilder tanzten vor ihren Augen.

      Wo war sie hier? Was war sie? War das der Vorhof zur Hölle? Hatte man sie vielleicht verbrannt, und sie erinnerte sich nur nicht?

      „Geht es dir gut?“, fragte eine schüchterne Stimme. Adam.

      „Ich habe Angst“, flüsterte sie. „Werde ich auch...? Ich meine, muss ich auch...?“

      „Du musst nicht“, flüsterte er. Sie spürte seine Körperwärme. „Nur wenn du bei uns bleiben willst, musst du. Es gibt auch andere Wege, aber wir leben sie hier nicht.“

      „Ich bin kein Menschenfresser“, schluchzte Sibil.

      „Schsch.“ Adam legte