Katja Piel

Kuss der Wölfin - Trilogie (Fantasy | Gestaltwandler | Paranormal Romance | Gesamtausgabe 1-3)


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sind wir lediglich Wölfe.“

      „Wie finde ich die anderen?“

      „Sie finden dich, wenn du das willst. Aber entscheide nicht zu schnell. Gut und Böse gilt für uns nicht. Wir sind Ausgestoßene, wir machen unsere eigenen Regeln und versuchen zu überleben, so gut es geht.“

      „Ich will keine Menschen töten!“

      „Er wäre sowieso gestorben. An der Kälte, an der Pest, am Fieber, am Alter. Wir haben sein Schicksal nur beschleunigt, und er musste nicht leiden. Ein kurzer Schreck, und alles war vorbei für ihn. Genau das wünschen sich die Menschen, wenn sie die ersten Beulen unter ihren Armen entdecken.“

      „Er war krank?“

      „Nein. Wir würden ihn sonst nicht fressen. Aber wer weiß, ob er es nicht bald geworden wäre?“

      Voller Abscheu wandte Sibil sich ab.

      „Geh fressen, Adam.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Ich gehe zuletzt, wenn alle satt sind. Ich bin der Rangniedrigste.“

      Sie starrte in das trübe Weiß des verschneiten Nachmittages, bis ihr die Tränen kamen. Noch am gleichen Abend fasste sie ihren Entschluss. Sie war dankbar für die Hilfe, die sie durch Raffaelus' Rudel erfahren hatte, aber dieses Leben wollte sie nicht führen. Die teuflischen Kreaturen hatten sich ihr leibhaftig gezeigt, was sie vermutlich zu einer Hexe machte, und sie hatte sogar mit dem Anführer gebuhlt. Wenn sie einen Rest ihres Seelenheiles retten wollte, musste sie das Weite suchen. Vielleicht existierte Gottes Vergebung ebenso leibhaftig wie die Versuchung.

      Sie wartete, bis alle schliefen, erhob sich dann lautlos von ihrem Lager und schlich aus der Höhle. Die Nacht war hell und angefüllt mit Geräuschen. Sibil tauchte in die Schatten der Bäume und begann zu laufen. Raffaelus würde ihrer Spur sicher folgen können, also musste sie möglichst schnell eine große Entfernung zurücklegen. Vielleicht verlor er dann das Interesse und ließ sie ziehen.

      Sie rannte mühelos. Noch nie hatte sie sich so kräftig gefühlt. Dichtes Gestrüpp und umgestürzte Bäume waren kein Hindernis für sie. Leichtfüßig huschte sie durch den Wald. Eine dünne Schneedecke knirschte unter ihren Füßen. Die kalte Winternacht brannte auf ihrer Haut.

      Sie erreichte eine Straße und rannte auf ihr weiter, in der Hoffnung, andere Reisende oder Fuhrwerke würden ihre Geruchsspur überdecken, doch der Schnee auf der Straße war unberührt. Nicht viele Reisende wagten bei diesem Wetter den Weg durch den Wald.

      Ein Ziel hatte sie nicht. Nur weg von den teuflischen Kreaturen, weg von allen anderen Menschen, bis sie wusste, was mit ihr los war. Vielleicht würde das seltsame Gefühl vergehen und sie konnte ein normales Leben aufnehmen, irgendwo, wo niemand sie kannte. Sie hatte gehört, dass es Städte gab, die größer waren als Bedburg. Vielleicht stellten die Leute dort weniger Fragen, und sie konnte sich als Magd verdingen.

      Die blasse Scheibe des abnehmenden Dreiviertelmondes stand hoch über den Bäumen, und sie wusste längst nicht mehr, wo sie war, als sie plötzlich begann, sich beobachtet zu fühlen. Sie blieb stehen und sah sich um, doch unter den Bäumen waren nur Schatten. Hatte Raffaelus die Verfolgung aufgenommen? Sie schnupperte. Sein typischer Geruch lag nicht in der Luft, dafür ein anderer, den sie nicht kannte, ein feiner, blumiger Duft, der sie an eine Frau denken ließ.

      Sibil rannte weiter und wunderte sich gleichzeitig, dass sie immer noch nicht außer Atem war.

      Nach einer Weile wurde der fremde Geruch stärker. Er wehte von rechts an sie heran, und nun meinte Sibil auch, einen Schatten zu sehen, der sich unter den Bäumen, jenseits des Straßengrabens bewegte. Beherzt sprang Sibil über den linken Straßengraben und rannte unter den Bäumen weiter. Hier kam sie nicht mehr so schnell voran. Sie sprang über Felsen und abgebrochene Äste und schlüpfte durch Gebüsch. Auf einer kleinen Lichtung scheuchte sie eine Gruppe Rehe auf und unterdrückte das irritierende Verlangen, ihnen nachzujagen. Sie überquerte die Lichtung, schlug die Zweige einer riesigen Tanne beiseite und stoppte sehr plötzlich. Vor ihren Füßen fiel der Waldboden steil ab. Schnee und loses Geröll rollten den Steilhang hinunter. Sibil klammerte sich an die Tannenzweige und rang um ihr Gleichgewicht. Hinter sich hörte sie leise Schritte und das Atmen eines Menschen. Sie saß in der Falle.

      „Du kannst jetzt aufhören, wegzurennen“, sagte eine Frauenstimme hinter ihr. „Du bist angekommen.“ Mit einem Schrei stürzte Sibil sich nach vorne, doch sie wurde festgehalten. Schlanke Frauenhände griffen ihre Arme und bewahrten sie vor dem Absturz. Sibil wehrte sich, doch die Fremde war überraschend stark. Gegen ihren Willen wurde Sibil herumgedreht, sodass sie ihre Verfolgerin ansehen musste.

      Im fahlen Mondlicht stand eine zierliche Frau vor ihr. Feuerrotes Haar fiel ihr in wilden Locken bis auf die Hüften. Sie trug ein leichtes Leinenkleid und war barfuß. Die Kälte schien ihr ebenso wenig auszumachen wie Sibil.

      „Mein Name ist Imagina“, sagte sie freundlich. „Ich bin gekommen, um dich abzuholen.“

      „Aber...“

      „Du kannst nicht alleine und wild im Wald leben. Du hast Raffaelus verlassen. Das war eine weise Entscheidung. Doch du brauchst Lehrmeister, die dich auf deine erste Verwandlung vorbereiten.“

      „Du bist wie er...?“

      „Nein.“ Imagina schüttelte den Kopf, dass ihre Locken tanzten. „Ich bin Tag, er ist Nacht. Ich bin Sonne, er ist Mond. Wir sind zwei Seiten einer Münze, aber ich bin nicht wie er.“ Sibil nickte verzagt.

      „Komm mit“, sagte Imagina. „Ich zeige und erkläre dir alles. Deine Reise hat erst begonnen, du musst noch nicht alles verstehen.“ Sibil seufzte tief. Die fremde Frau hatte etwas Vertrauenerweckendes. Sie erinnerte Sibil an ihre Mutter, die vor so vielen Jahren im Kindbett ihres Geschwisterchens gestorben war. Sibil lehnte sich nach vorne, und Imagina umfing sie mit ihren Armen. Es tat unglaublich gut. Etwas in Sibils Innerem löste sich, und sie begann zu schluchzen wie ein Kind. Imagina strich ihr übers Haar. Schwieg. Sibil wurde schwindelig. Sie blinzelte in den Wald, der sich immer schneller um sie drehte. Der Schnee und die Umrisse der Bäume wurden zu einer schwarzweißen Masse, in der Sibil versank. Dann mischten sich dünne goldene Fäden in den Wirbel, Grün kam dazu und Himmelblau. Vogelgezwitscher drang an Sibils Ohren, und in ihre Nase stieg der Geruch von frischem Gras. Sibil blinzelte.

      Sie stand in weichem, grünem Gras auf einer Lichtung. Imagina neben ihr hielt ihre Hand. Die Luft war warm und gleichzeitig frisch wie an einem Frühlingstag. Die Sonne ging gerade über den Baumwipfeln auf und beleuchtete ein hübsches, helles Steinhaus, das sich unter blühende Kirschbäume duckte. Ein sandiger Weg führte zur Tür. Ein niedriger Zaun grenzte einen Garten ab, in dem zarte Pflänzchen ihre Köpfe gerade aus der Erde schoben.

      „Ja“, sagte Imagina. „Es ist Zauberei und kein Traum. Ich mag den Winter nicht.“

      „Aber wie...?“

      Imagina lächelte. „Das ist mein Geheimnis, Kleine. Nun komm mit und begrüße die anderen.“ Während Imagina Sibil zum Haus führte, nahm diese die Umgebung in sich auf. Die Kirschblüten verströmten einen lieblichen Duft. Hinter dem Haus befanden sich flache Stallgebäude, in denen Sibil Ziegen meckern und Kühe scharren hörte. Irgendwo krähte ein Hahn.

      Imagina stieß die Haustür auf und schob Sibil ins dämmerige Innere. An einem Tisch saßen ein junger Mann und eine junge Frau, die beide aufsprangen, als Sibil eintrat.

      „Du hast sie gefunden!“

      „Wie geht es ihr? Wo war sie?“

      „Langsam“, sagte Imagina. „Ja, Marcus, ich habe sie gefunden. Rosa, es geht ihr gut, sie rannte durch den Wald nach Westen. Ihr Instinkt hat sie schon in unsere Richtung geführt. Ich betrachte das als gutes Omen.“ Sibil betrachtete die beiden jungen Menschen schüchtern. Marcus war groß und schlank, aber muskulös, mit goldenen Locken und großen blauen Augen in einem Gesicht, das gerade einen ersten Bartflaum trug. Rosa war klein und mollig, mit langen, dunklen Zöpfen und einem ansteckenden Lächeln.

      „Willkommen“, sagte sie und zog Sibil in eine freundschaftliche Umarmung. „Wie heißt