Jules van der Ley

Nachtschwärmer Online


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rasch. Der Kreis der Hutkunden ist zu klein für rasch wechselnde Kollektionen. Es gibt auch mehr Traditionsbewusstsein. Männerhüte zum Beispiel sind oft konservativ. Ist der Warenumsatz also langsam, bleibt die Tradition länger bestehen. Ja, wenn plötzlich eine kollektive Hutpflicht ausgerufen würde, eine stille Übereinkunft, dass man einen Hut auf dem Kopf zu tragen habe, wie es vor dem ersten Weltkrieg bei uns noch Sitte war, dann hätten wir rasche Hutmodenwechsel, dann wollte man sich vom anderen ein bisschen unterscheiden. Weil die Mode nicht ganz uniform sein soll, denn man ist ja ein Ich. Das Ich will Individualist sein.

      Wo die Gruppe nicht viel gilt, will man sich gerne abheben. Denn unsere Gruppen sind zu groß. Wir sind Scharen. Und in der Schar gedeiht das Gemeinschaftsgefühl schlecht. Ja, die Events nehmen zu, der Event ist das Gemeinschaftsgefühl der Schar. Denn jeder Einzelne in der Schar entbehrt leise den Schutz der Gruppe. Man entbehrt eine ständige Gruppe, nicht das Durcheinander von wechselnden Gruppen.

      Es ist noch in uns, denn der Mensch ist ein Gruppenwesen.

      Wie hält man eine Schar zusammen in einem Volk, einer Nation? Man braucht Schrift und Fernkommunikation, denn man kann nicht jeden der Schar erreichen, indem man mal kurz um die Ecke geht. Das bringt dann auch die Eile in die Welt, denn das versendete geschriebene Wort ist schneller als der Worte Klang und der menschliche Schritt.

      Unsere Schrift ist schneller als der Schall.

      Ach, die Elsässischen Frauen verfolgen uns noch. Also rasch: Ich habe gehört, dass sich deren Hutbänder über lange Zeit hinweg in einem Dorf kaum veränderten. Doch über die Jahrhunderte hinweg sind sie immer breiter geworden.

      Wie konnte das geschehen? Man verstieß doch in den Dörfern bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht gegen die Tradition. Es waren mündliche Kulturen. Das gesprochene Wort galt und war ungeschriebenes Gesetz.

      Wer hat der ersten Frau den Stachel ins Fleisch getrieben, dass sie ihr Hutband heimlich etwas breiter gemacht hat, als es schicklich war? Womit sie ein heimliches Nachziehen der anderen Frauen auslöste, das sich, da es heimlich und allmählich geschah, über Jahrhunderte erst deutlich machte.

      Die erste Frau, die ihr Hutband heimlich verbreitert hat, kam vielleicht von außerhalb oder hat eine Information von außen bekommen. Sie wusste, dass es anderswo breitere Hutbänder gab. Das behaupte ich jetzt einmal, kannst mir ja widersprechen, wenn du mehr über diese Hutbänder weißt als ich.

      Der Austausch mit den Menschen in der Ferne bringt die Eile in die Welt. Eile hat schleichend begonnen. Inzwischen hat sie ein ordentliches Tempo aufgenommen. Und der heutige Mensch spürt es. Ein beliebtes Wort der letzten Zeit:

      „Ich muss Gas geben.“

      Jetzt jedoch nicht mehr, entspanne dich bitte, denn du bist redlich müde.

      Gute Nacht, meine Liebe!

      Die Schreibmaschine fliegt einen Meter hoch

      Gleich zieht der alte Fuchs Remington sie alle übern Tisch! Du glaubst es nicht? Warte, es ist zu laut hier, die Kerle reden alle durcheinander. Bis zur Abstimmung ist noch etwas Zeit. Komm, wir setzen uns in die prächtige Lobby und trinken etwas. Dann erzähle ich dir, worum es auf diesem Kongress geht.

      Was wir bestellen sollen, weiß ich wirklich nicht.

      Ich frag mal den Kellner, welche Spezialität man in Toronto hat. Da staunst du, was? Grad sind wir mal die Ecke rum und sitzen in Toronto, mitten in der Stenographenkonferenz von 1886. Die Stenographen- und Berufsschreiberverbände müssen etwas regeln. Es gibt zuviel Wildwuchs in ihrem Gewerbe, besonders was diese neumodischen Schreibgeräte angeht. Sie nennen sie Schreibmaschinen.

      Als ob eine Maschine schreiben könnte! Nur eins macht mich unsicher. Dieser Clement da, du weißt schon, der Kerl aus den Südstaaten, der sich Mark Twain nennt, er soll schon mehrere Modelle hintereinander besessen haben. Immer wenn eine Verbesserung raus kam, hat er sich bedient. Er kann es sich leisten, er verdient gut mit seinen Bücher. Hast du „Huckleberry Finn“ gelesen? Sehr philosophisch, geschrieben aus der Sicht eines einfachen Jungen.

      Ja, also die Stenographen hier. Sie wollen eine einheitliche Schreibmaschinentastatur beschließen. Die Hersteller wünschen es sich, damit sie den europäischen Markt erschließen können. Ich glaube, Remington setzt sich durch. Das hat sich in den Arbeitgruppen und Aussprachen schon angedeutet. Und hier in der Lobby sitzen seine Leute und quatschen den Vertretern der Standesorganisationen ein Ohr ab. Sie machen Lobbyarbeit für ihren Chef.

      Du weißt ja, eigentlich produziert er Waffen. Das berühmte Remingtongewehr, kennt man es nicht aus Karl May?

      Remington hat viel investiert in die Schreibmaschinenfabrikation. Er hat Versuche anstellen lassen, welche Tastaturanordnung die günstigste ist.

      Was meinst du, die günstigste für dich, damit du leichter tippen kannst? Nach Buchstabenhäufigkeit? Geschnitten! Im Gegenteil, die Idee hat Remington längst aufgegeben. Es klappte nicht, die Typenhebel haben sich immer verhakt, wenn die Buchstaben zu nah beieinander liegen, die in den Wörtern einer Sprache oft nebeneinander stehen. Und es wäre auch nicht gut für ihn, denn dann müsste er doch von Sprache zu Sprache unterschiedliche Tastaturen machen. Aber gerade das will er verhindern. Es würde zu teuer in der Herstellung.

      Die Tastaturanordnung, die sie gleich beschließen werden, und die du heute noch auf deiner Computertastatur hast, die ist also danach ausgerichtet, dass die häufig zusammen auftretenden Buchstaben eben NICHT nebeneinander liegen. Wir können eigentlich gehen. Remington gewinnt das Ding hier. Diese Berufsschreiber sind wirklich bornierte Kerle in ihren Bratenröcken da. Es soll gute Freudenhäuser in Toronto geben. Da haben Remingtons Leute vielleicht den einen oder anderen großen Zylinder der Stenographen hin eingeladen. Man weiß nicht, welche Tricks diese Burschen drauf haben.

      …

      Zur Zeit der Stenografenkonferenz von 1886 war das Berufsschreiben noch reine Männersache. Die Schreiber duldeten keine Frauen in ihren Reihen. Das wäre nur unliebsame Konkurrenz. Frauen machen womöglich die Preise kaputt. Die Entlohnung der Schreibarbeit war kärglich genug. Den ganzen Tag standen die Schreiber an den Stehpulten und kratzten mit ihren Federn übers Papier, das würde ohnehin keine Frau aushalten. Nein, Schreiben war Männersache.

      Es gab nur Männer in den Kontoren. Deshalb entschieden auf dieser Konferenz auch allein die Männer. Ihre Frauen hatten sie bestimmt nicht mitgebracht. Sie hüteten zu Hause die Kinder.

      Die Schreibmaschine hat den Männern einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht und die Berufswelt völlig verändern. Wieso? Guck, die meisten Berufsschreiber lehnten die neue Technik ab. Sie fürchteten um ihre Arbeit. Daher ließen die Arbeitgeber erstmals Frauen in die Kontore ein. Die Schreiberinnen wurden von ihren Kollegen verächtlich "Tippmamsells" genannt. Aber mit zunehmendem Einsatz der Schreibmaschine verdrängten die Tippmamsells die männlichen Schreibkräfte völlig. Die Arbeitgeber bevorzugten weibliche Arbeitskräfte wegen ihrer "größeren Wohlfeilheit und Willigkeit". Die Frauen gaben sich nicht nur mit geringerer Entlohnung zufrieden, es hieß auch allgemein, die fingerfertigen Frauenhände kämen besser als Männerhände mit der schlecht angeordneten Tastatur zurecht. In der rasch sich entwickelnden Bürowelt konnten sich die Tippmamsells rasch behaupten. Das ist wohl auch der Grund, warum so viele Schreibmaschinen Frauennamen tragen: ERIKA, MERCEDES, NORA, GISELA, MONICA, GABRIELE,…

      Heute denke ich, die Plaketten auf den Schreibmaschinen sind wie Ehrentafeln für diese ersten berufstätigen Frauen. Mit ihren zarten Fingern haben sie die komplizierte mechanische Tastatur beherrschen müssen, haben sich über die boshafte Universaltastatur mühevoll an das ferne Ziel der beruflichen Emanzipation herangetastet.

      Wie man die Frauen zuerst gedrillt hat in den Schreibmaschinensälen – das ist unglaublich. Die Taktlernmethode, zum Beispiel, ich glaube: nach Scholz. Da saßen bis zu 50 oder 100 „willfährige Frauen“ und schrieben nach dem 10-Finger-System im Takt. Du kennst es noch, kürzlich lief der Sketch mit Jerry Lewis wieder im Fernsehen, wo er auf einem Stuhl sitzt und zu schneller Musik auf einer imaginären mechanischen Schreibmaschine tippt. Und dann immer das Klingeln am Ende, wenn er den Wagen zurückschiebt.