Jules van der Ley

Nachtschwärmer Online


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über die Vergabe der Enteisungsarbeiten auf der Brücke von Plombieres zügig vorangetrieben werden könne.

      Lediglich die Zustimmung der Zentralbehörde in Brüssel zu dem eigens für diesen Notfall entwickelten 7-seitigen Formblatt in den drei Amtssprachen des belgischen Königreiches müsse noch abgewartet werden.

      Der König aller Belgen werde danach unverzüglich siegeln.

      P.P.S.: Sollten sich jedoch die Witterungsverhältnisse rasch ändern, wenn der Wind zum Beispiel auf West umschlagen würde, wodurch er höhere Temperaturen brächte, da er von der nahen Nordsee und dem Golfstrom darin aufgewärmt wird, dann jedoch, bei laueren Winden, würden die Ausschreibungsvorbereitungen unverzüglich gestoppt. Das Siegel des Königs würde man aus der Vorlage entfernen und in einen Panzerschrank legen, wo es fortan unberührt verrotten dürfe. Also, in diesem durchaus wünschenswerten Fall werde die Strecke wieder frei gegeben, ohne dass man die Enteisungsarbeiten durchführt.

      Das Befahren geschähe dann auf eigene Verantwortung.

      Heute mit Kerzenlicht

      Eigentlich bin ich ziemlich froh, dass der Viadukt von Plombieres gestern vereist war. Da muss es unwirtlich gewesen sein, bei der eisigen Kälte und den heftigen Eiswinden aus Ost. Unter einem das Nichts, den Wind um die Ohren, da wäre ich dir ein feiner Zugführer gewesen, hätte ich dich hingezerrt.

      Jetzt sind wir einmal im Dunkeln über den Kalvarienberg gelaufen, und drüben wartet schon die Kapelle. Hör mal, guck dir die Kreuzwegsstationen bitte im Hellen an. Man sieht jetzt sowieso nicht viel. Das meiste müsste ich dir beschreiben. Und dann wunderst du dich nachher, wenn du alles im Hellen besiehst, über meine dichterische Freiheit. Ein bisschen musst du mich nämlich auch erfinden lassen, sonst könntest du ja gleich mit einem Reporter gehen. Der würde es dir dann korrekt erklären, doch ob Zauber drin ist, weiß du dann nicht.

      Madame Grosch da drüben in ihrem Café, sie heißt natürlich nicht wirklich Grosch. Ich kann die arme Frau nicht einfach so vorführen, doch dass sie in Schluppen serviert, das habe ich wirklich mit eigenen Augen gesehen. In dem Café war ich natürlich auch schon mal, zusammen mit einer guten Freundin. Die habe ich aber aus den Augen verloren. Irgendwie schade. War manchmal schön mit ihr.

      Ja, klar, jetzt sind wir zwei hier und weißt du, was ich jetzt tue? Wir sind doch im Augenblick ziemlich allein, oder? Sieht uns ja keiner. Da könnte ich eigentlich mal eben aus der Rolle fallen.

      Nicht, was du jetzt denkst. Nein, ich drehe mich jetzt einfach mal von dir weg. Darf ich das? Geht das für einen Moment? Kannst dir ja die Ohren zu halten.

      Tastatur an Bildschirm:

      Einige Verhaltensregeln während der Reise:

      - Sind Sie zufällig ein guter Mann, der hier liest: bitte stellen Sie sich vor, Sie seien der Erzähler und suchen Sie sich als Begleiterin die Dame Ihres Herzens aus.

      - Sind Sie jedoch eine schmucke Frau, dann halten Sie es einfach genauso, doch wenn Sie auf Männer stehen, dann eben umgekehrt.

      (… Hm, schlecht erklärt …) Jedenfalls können Sie jede gewünschte Person in die Rolle des Erzähler stecken.

      Andernfalls müssen Sie mit unserem Herrn Trithemius vorlieb nehmen. Da allerdings warnen wir Sie. Er quatscht Ihnen manchmal ein Ohr ab.

      Quatsch! Jetzt muss ich mir hier auch noch seitens der Teppichhaus-Verwaltung solche Sachen sagen lassen. Und du, meine Liebe, hast alles gehört. Wie peinlich für mich!

      Macht nichts?

      Ja, das kenne ich. Wenn eine Frau zu einem Mann sagt: „Macht nichts!“, dann ist meistens was schief gegangen.

      Na, du bist jedenfalls nicht weggerannt. Wo sollst du auch hin so spät. Moresnet schläft. Wenn wir Glück haben, ist die Kapelle noch auf. Wir machen es wie die frommen Frauen. Tür auf, Portmonee raus, Kerze aufgestellt, fertig!

      Jetzt guck mich nicht so vorwurfsvoll an. War nur Spaß. Komm, ich halte dir die Tür auf. In der Kapelle ist es schön warm, weil so viele Kerzen brennen.

      Stell dir einmal vor, du wärest ernstlich krank gewesen, Tennisarmsyndrom oder so. Nichts hätte geholfen, Ärzte hätten versagt. Und dann bist du einmal in Moresnet oder in einer anderen Wallfahrtskapelle gewesen. Hast Geld gegeben, eine Kerze genommen, sie angezündet und ihr einen freien Platz in den Haltern gesucht. Und wie du so vor dem Lichtermeer stehst, siehst du dir deine Kerze an. Du freust dich, dass die Flamme züngelt und sie mittanzt mit den anderen Flammen, wenn ein Luftzug geht. Dann hast du dich gesammelt und hast deinen Wunsch laut gedacht. Bist noch einen Moment stehen geblieben und dann gegangen. Nach einer Weile hast du kaum noch daran gedacht.

      Eines Tages wirst du wach und der Tennisarm ist weg. Also, der Arm ist natürlich noch da, tut aber nicht mehr weh. Spontanheilung! Dann bist du zuerst sehr erstaunt, dann freust du dich und bist dir wieder gut. Klar, dass du dann denkst, die Kerze hat geholfen. Die Muttergottes hat meine Bitte erhört. Schon hast du das Gefühl tiefer Dankbarkeit. Dieses Gefühl hast du so selten, dass du etwas Besonderes tun willst, damit man da oben deine Dankbarkeit sieht. Dann gehst du zum Steinmetz und gibst ihm einen Text. Den hast du zu Hause sorgsam formuliert, vielleicht sogar mit einem Bleistift. Der Steinmetz soll den Text in den Stein ritzen. Dafür will er Geld, und das gibst du ihm gern. Denn so lange die Kapelle steht, soll man deinen Dank sehen. Er soll nicht verwischen und nicht verblassen. Darum steht dein Dank eingegraben in einen Stein. So gibst du deinem Dank Gewicht.

      Siehst du, darum hängen hier die Wände voller Votivtafeln. Wenn jetzt noch einer käme und wollte der Muttergottes für ein Wunder danken, da wüsste ich jetzt nicht, wo für seine Danktafel noch Platz wäre. Aber die Belgier sind findig. Die Decke ist ja noch frei.

      So, jetzt auf zur Draisine. Es ist spät, wir müssen uns beeilen.

      Kannst du noch, meine Liebe? Es ist nicht weit. Guck, da rechts ist der Weg durch den Wald. Er schlängelt sich zum Bahndamm hoch. Es ist kürzer dahin als du denkst. Du musst dich auch nicht fürchten, weil es dunkel ist. Manchmal fällt ja Mondlicht auf den Weg. Komm, ich nehme dich an meine Seite. Du zitterst ja. Ist es die Kälte oder hast du Angst. Hoffentlich ist es nicht beides.

      Na, gegen die Kälte, hier meine Hand. Es ist witzig, ich habe immer warme Finger. Merkst du das? Fühlst du, dass es dir wärmer wird? Das ist gut. Dann brauchen wir über Angst nicht mehr zu sprechen, denn gleich packt dich garantiert der Wagemut. Wir müssen nämlich den Bahndamm stürmen, wir zwei.

      Verflixt, jetzt bist du ja auch noch schneller als ich. Das lasse ich nicht auf mir sitzen!

      He, das gilt nicht! Nicht am Arm festhalten!

      Na, ist auch egal. Hast gewonnen.

      Da steht unsere Nachtdraisine. Kommst du hoch? Blöde Frage. Beim Wettlauf warst du auch die Rabiatere. Gleich fahren wir los, meine Liebe. Setz dich bequem und rück etwas ran. Natürlich nur, wenn du willst.

      Eisen auf Eisen rollt sich ab.

      Das Gleisbett zieht unter uns weg. Das sieht irgendwie witzig aus. Weil man kaum hört, wie die Draisine fährt, denkt man, der Boden rollt weg. Dass wir fahren, hörst du am Tocktock, wenn die eisernen Räder über Nahtstellen in den Schienen flitzen. Genieße die Fahrt, ich weiß, was ich tue.

      Ja, der Fahrtwind ist enorm. Zum Glück hast du eine Kapuze auf. Für mich ist das nichts. Ich will, dass meine Haare fliegen. Du weißt ja, ich setze mir nie irgendwas auf den Kopf.

      Gleich kommt der Tunnel. Mach dich gefasst. Es ist leider stockfinster, ich kann es nicht ändern. O Gott, da taucht das Mundloch auf, schwarz wie ein Kohlenkeller. Komm ruhig ganz nah, hörst du. Ich werde es nicht ausnutzen. Auch wenn ich dich jetzt nicht sehen kann, und du siehst von mir nichts, so bin ich doch neben Dir. Du spürst mich, und ich spüre dich.

      Es hallt hier ganz schön, was?

      Ich will dich auch nicht länger quälen. Du bist an solche Fahrten nicht gewöhnt. Das macht man nicht alle Tage. Und in der Nacht noch seltener. Die Durchfahrt