Jules van der Ley

Nachtschwärmer Online


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der gelernten Worte „Rhabarber - Rhabarber“ gebrabbelt haben …

      Doch es hat mich jedes Mal erfasst. Wenn ich sorgfältig das Confiteor aufsagte, dann wusste ich, dass ich etwas Besonderes spreche. So geheim und so verschlossen für einen wie mich. Reiner Klang, nur vage geahnter Inhalt, das musste die Sprache der Engel sein. Und sie kam wie Wasser aus meinem Mund.

      Die Mönche! Wir sehen auf ihre gebeugten Rücken. Gleich werden sie sich im Gleichmaß erheben. Hast du dich schon einmal im Gleichmaß mit anderen Menschen erhoben? Es ist anders, als würdest du jetzt allein von deinem Sitz aufstehen, nicht wahr?

      Sie erheben sich, und mit mächtigem Auftakt schlägt die Orgel an. Sie sind nicht zusammengezuckt wie du und ich. Nein, sie haben den Auftakt gemeinsam erwartet. Sie stehen Seit an Seit, Hintermann an Vordermann.

      Da, es atmet ein. Das Ich der Mönche hebt an zu singen. Und jeder ist für diesen Augenblick eins mit seinem Nächsten. Welch ein erhebendes Gefühl muss das sein, mit Inbrunst die Sprache der Engel zu singen. Zu tönen, wenn der Nachbar tönt, zu atmen, wenn auch er es tut. Welch ein Ton, welch ein Klang erfüllt das kleine Kirchenschiff!

      Jetzt der Schlussakkord der Orgel – sie schweigen. Knien nieder und falten die Hände zum Gebet. Und nun ertönt das gemeinsame Raunen. Es ist gewiss älter als die Musik. Es stammt aus den Äonen der Vergangenheit, kam weit herauf von den ersten Menschen zu uns.

      Nächtens haben sie beim Feuer gesessen, haben sich in der Hütte ums Feuer versammelt, die schreckliche Dunkelheit der Nacht auszuschließen. Dort ist die Wand, und dahinter ist Finsternis. Hoch ragt der Wald um die kleine Lichtung.

      Im Schutz der Hütte sitzt auch du, siehst den Nachbarn kaum, denn nur die Glut spendet Licht. Doch du spürst den von nebenan, fühlst ihn und die anderen. Ihr gehört zusammen. Das Feuer knistert und du hörst leises Atmen.

      Ein Alter sitzt nah beim Feuer. Ihr nennt ihn Einar. Einar war schon alt, als du geboren wurdest. Einar ist euer Geschichtsbuch und eure Bibliothek. Nein, er schreibt nichts auf. Die Idee ist ihm fremd. Einars Bibliothek ist in seinem Kopf. Darum, und weil er so alt ist, achtet ihr ihn. Er ist eure Stimme, euer Geschichtsbuch und euer lebendiges Gesetz.

      Und dann beginnt Einar zu singen. Er öffnete den Mund, und aus seiner Kehle steigen langsam die vergangenen Jahrhunderte herauf. Einars heiserer Gesang durchwehte den Raum und zieht in eure Herzen. Einars Gesang von vergangenen Zeiten ist ein stetes Schwingen, und allmählich beginnt ihr mitzuschwingen. Es erfasst dich. Deine Kehle formte Einars Laute nach, wie wir es noch heute beim leisen Lesen tun. Eure Kehlen formen das Echo, die uralte Echolalie. In Einars Gesang, da werdet ihr eins. Es ist eine Stimme, die da singt: eure Stimme. Und in euren Stimmen sind die Stimmen eurer Vorväter.

      Ja, das ist Einars Gesang. So hat er ihn vom Ältesten gelernt. Und der Älteste hatte ihn als kleiner Junge von seinem Ältesten gehört. Da war eine lange Reihe von Meistern und Lehrlingen, eine lange Folge von Sängern. Sie zieht sich tief hinab in die Jahrtausende und verliert sich im Dunkel der Zeit.

      Du hast Recht, wir brauchen keinen Alten mehr wie Einar, wir haben Bücher und neuerdings das Internet. Darum achten wir die Alten nicht mehr, und dieses tiefe Gemeinschaftsgefühl haben wir nur noch selten. Eins zu sein mit den Menschen ringsum. Eins zu sein mit unseren Ahnen. Die Zeiten ändern sich.

      Gute Nacht, meine Liebe!

      Ich und Wir und die Hutbänder Elsässischer Frauen

      Hier sitze ich gern. Doch bei Nacht war ich auch noch nie hier. Mondlicht gibt es kaum, der Mond ist nur eine dünne Sichel. Ist dir warm, magst du eine Weile neben mir auf der Bank sitzen? Die hohen Bäume hier, die meisten sind Buchen. Napoleon hat sie pflanzen lassen. Vorher war der Lousberg kahl.

      Die Alten haben hier nach Flint gegraben; Feuerstein für Waffen und Pfeilspitzen. Zu ihrer Zeit war überall Wald. Die kleinen Rodungen, die es gab, lagen weit verstreut.

      Selten bekam man fremde Menschen zu Gesicht. Und wenn es geschah, war’s jedes Mal ein kleiner Kulturschock. Denn jeder Stamm hatte seine eigene Kultur, seine eigene Geschichte und eigene Gesetze. Doch sie dachten vermutlich nicht darüber nach. Warum auch? Es war schon seit Menschengedenken so gewesen, oder?

      Guck, wenn du nach Einbruch der Dunkelheit mit den anderen in der Hütte beim Feuer sitzt und aus deinem Mund rinnt die alte Echolalie. Deine Stimme mischt sich mit denen der anderen, nur der alte Einar tönt ein wenig hervor. Denn er muss ja den Ton angeben, er ist eure Geschichte und euer Gesetz. Was bist du, während du mit den anderen tönst? Bist du ein Ich?

      Du wunderst dich, dass ich dich frage?

      Du hast mit den anderen den Singsang gesungen. Du bist eins gewesen mit ihnen. Die Worte aus eurem Mund haben eurem Einssein Gestalt gegeben. Es ist Einklang in deinem Herzen gewesen. So fühlst du dich mit den anderen deines Stammes, im Einklang bist du mit ihnen, auch bei Tag. Du lebst in einer Welt, in der alles seine Ordnung hat.

      Dort ist der Wald. Ihn fürchtet ihr. Trotzdem wagt ihr euch hinein, das ist euer gemeinsamer Mut. Die Worte des Alten? Man zweifelt sie nicht an. Und haben zwei etwas auszufechten, er wird entscheiden wie. Die göttliche Ordnung? Sie ist gegeben. Man macht sich keine Gedanken darüber. Was muss man tun, um die Götter milde zu stimmen? Sagt der Alte, die Götter wollen ein Opfer. Dann opfert man eben.

      Wie redet man, wenn am Feuer gelacht wird? Was sind gut gegebene Worte? Wie gewinnt man die Herzen der Frauen und Männer? Ihr wisst es, es ist als Überlieferung die lange Reihe der Ahnen zu euch heraufgekommen.

      Was meinst du, wie lebt man in solch einer „Man-Welt“, wie fühlt es sich an? Dein Ich hat nicht die Bedeutung, die es heute hat. In vielen Dingen des Lebens bist du nicht ich, sondern wir. Du weißt, was man tut.

      Und gäbe es nicht Katastrophen, viele schreckliche Winter und nasse Sommer in Folge, fielen nicht fremde Horden über euch her, dann bliebe alles wie es war und seine gute Ordnung hatte. Es könnte 100, 1000, 10.000 Jahre so bleiben, wie es gute Tradition war. Warum etwas ändern, wenn es die Welt nicht erfordert? In einem solchen Volk sind die Alten immer klüger als die Jungen.

      Wie kamen eigentlich das Ich, das Vergessen alter Werte, die Missachtung der Alten und die Eile in die Welt?

      Ich hätte Lust, jetzt in einem großen Kaufhaus zu sein. Die Lichter wären an und wir hätten das Kaufhaus für uns.

      Man hat sich doch gerade erst an die Wintermode gewöhnt und sich überlegt, das Teil da könntest du dir mal bei Gelegenheit kaufen. … Und hat man sich dann endlich entschlossen und ist in Kauflaune, ist das Teil weg.

      Jetzt hängt schon die Frühlingsmode hier. Und es ist, das weißt du besser als ich, nicht die Frühlingsmode vom vergangenen Jahr.

      Sie machen dauernd neue Kollektionen, doch in der Silvesternacht kam ich trotz der ständig wechselnden Mode in Not. Ja, es war nur eine kleine Not, ich gebe es zu. Eher ein Nötchen, bzw. es waren zwei. Also, ich hatte neuen Tabak in meiner Jacke, und die Jacken der Gäste lagen allesamt auf dem Bett. Wo aber war meine? Ich fand sie nicht sofort, denn ich hatte schon etwas zuviel getrunken. Trotzdem lag das nicht an mir. Alle Jacken bis auf eine waren schwarz.

      So ist doch eine gewisse Uniformität in der Welt, trotz der vielen wechselnden Moden.

      Dann stand ich nach zwölf auf dem Balkon und wollte einige SMS verschicken. Nebenan stand die Frau des Freundes meines Freundes. Meine Brille, sie war nicht da. Ich dachte an die schrecklich schwarzen Jacken, und dann sah ich die Frau an. Sie wollte reden. Und ich dachte, warum soll ich eigentlich im neuen Jahr schon Eile in meine Welt bringen? Warum soll ich auf dem Balkon stehen und Menschen am anderen Ort Botschaften schicken? Es hat Zeit bis morgen. Nebenan steht eine Frau, sie steht mit mir im Hier und Jetzt, und ich sehe, sie würde gerne reden.

      Das tat ich dann, wir lachten und alberten ein bisschen. Und so nahm ich zu Beginn des neuen Jahres zuerst einmal die Eile aus meiner Welt.

      Was jedoch hat es auf sich mit den Hutbändern und woher kam nun die Eile?

      Komm, wir gehen mal zu den Damenhüten. Sie