erscheint.
Wie auch immer. Reiß dich los, meine Liebe, wir fahren jetzt weiter. Die Draisine rollt an. Hoffentlich wird sie bald schneller, denn am Westfriedhof ist es ein bisschen gruselig. Das erste Stück geht, da haben wir zwischen uns und dem Friedhof noch die Bleiberger Straße. Leider endet sie an der Brücke über die Vaalser Straße, und dann rücken die Gräber bis nah an den Gleiskörper. Das einsame Haus dort war vielleicht einmal ein Bahnhofsgebäude, doch wenn du genau hinguckst, siehst du auf den Ziegeln der Hausfront die blasse Aufschrift „Friedhofsgärtnerei“.
Das Gebäude steht leer, seit ich in Aachen bin. Ich kenne es nicht anders. Die Leute sparen ja immer mehr bei der Friedhofskultur. Das habe ich letztens im Fernsehen gehört, da ging es um Pappsärge aus Holland. Man will sie eventuell auch in Deutschland genehmigen.
Hör mal, zu Rosenmontag war ich einmal in einer Kneipe im Kölner Severinsviertel. Da lernte ich einen Mann kennen, der eine Kalenderdruckerei hatte. Er ließ irgendwie die Nase hängen, was aber nichts mit den Kalendern zu tun hatte, sondern mit seiner Frau. Jedenfalls war er nicht recht bei der Sache, was karnevalistische Fröhlichkeit betrifft. Und weißt du, wann er dann endlich auftaute und so richtig lebendig wurde? Als er mir von seinem Begräbnisverein erzählte.
„Wie kommt man darauf, einen Begräbnisverein zu gründen?“, habe ich gefragt.
„Wir haben uns gesagt, aus dem Alter, dass wir Hochzeiten und Kindstaufen feiern können, sind wir raus. Was jetzt noch kommt, sind Beerdigungen. Darum haben wir den Begräbnisverein gegründet.“
„Und was macht ihr so?“
„Wir besichtigen Friedhöfe, und letztens haben wir ein Krematorium besucht“, hat er gesagt und sein Kölsch gekippt. Und wie er sich so erinnert hat an die ganze Technik in einem Krematorium und dass nach der Leichenverbrennung in der Asche noch die Knochen rumliegen, da konnten ihm auch die Karnevalswagen vor den Kneipenfenstern die Laune nicht mehr verderben, hehe.
Hör mal, ich will mich gar nicht über ihn lustig machen. Vielleicht fühlt man sich wirklich erst so richtig lebendig, wenn man das Thema Tod nicht verdrängt. Man kann ja eine Sache am besten genießen, wenn man auch das Gegenteil vor Augen hat. Wenn du zum Beispiel einen freien Tag hast, dann ist die Freude am größten, wenn du weißt, dass die anderen an deinem freien Tag arbeiten müssen.
Was da zwischen den Bäumen und Büschen blinzelt, sind übrigens die Grablichter, das kannst du dir denken. Es dauert jetzt eine Weile, bis wir den Westfriedhof hinter uns haben. Wusstest du eigentlich, dass Fasane nachts aufbaumen? Wirklich, diese großen plumpen Vögel fliegen zum Schlafen auf die Bäume. Da können wir nur hoffen, dass sie sich unseretwegen nicht erschrecken. Denn wenn sie aus den schwarzen Fichten auffliegen, das macht einen höllischen Flatterlärm. Falls dir das Angst macht, kannst du ja ein bisschen näher heranrücken und wenn nötig für einen kurzen Moment in mich hineinkriechen.
Ah, das tat gut.
Was ist, meine Liebe? Brauchst doch nicht gleich ängstlich zu ducken, wenn so ein Federvieh sich erschreckt. Guck, da rechts auf dem neu bebauten Hügel soll irgendwo der Oberbürgermeister von Aachen wohnen. Das finde ich besser, als würde er an dem anderen Tunnel der Stadt wohnen. Denn dort ist der Geldadel von Aachen zu Hause.
Gott, jetzt wird es finster. Hier gibt es nur Wiesen und Büsche. Bist du auch so nass im Gesicht? Kein Wunder, bei dieser Luftfeuchte. Ein Glück, dass du meine Jacke nicht brauchst.
Was da so bedrohlich vor uns aufragt? Da versperrt uns ein stattlicher Berg den Weg. Keine Angst, es gibt ein Durchkommen. Wir sagen gleich den Lichtern des Bauernhofs tschüss, tauchen in einen Hohlweg ein und sausen auf den Tunneldurchstich zu. Der Tunnel reißt das finstre Maul auf, und schon sind wir drin.
Wir sind unter der Erde. Jetzt drückt uns der höchste Berg der Niederlande auf die Ohren. „Drielandenpunt“ heißt er. Drei Länder stoßen dort oben aneinander.
Weißt du, was ich vergangene Nacht getan habe? Ich konnte nicht schlafen, und irgendwann habe ich den Fernseher eingeschaltet. Auf dem Ersten Programm fuhr man wie ein Lokführer über eine der schönsten Eisenbahnlinien der Welt. In Österreich war es, glaube ich.
Einmal tauchte die Lok in einen langen Tunnel. Zu sehen war nix. Als ich dachte, och, hier ist es aber finster, da tauchte eine Schrifteinblendung auf:
„Tunneldurchfahrt um drei Minuten gekürzt“
Und dann kam Licht in den Tunnel und man fuhr wieder hinaus in die Landschaft. Ich dachte, das ist die Qualität des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Von den Schlaflosen vor der Glotze hätte doch keiner gemerkt, dass die Tunneldurchfahrt verkürzt war. Dass sie es trotzdem einblenden …, und da sagst du immer, es gibt keine journalistische Sorgfalt mehr.
Wie, das hast du nie gesagt?
War ja auch nur ein Spaß.
Wir machen es jetzt genauso, meine Liebe, verkürzen die Tunneldurchfahrt um drei Minuten. Denn wir wollen endlich raus aus der Finsternis. Man sieht ja die Hand hinterm Rücken nicht. He! Brauchst nicht gleich wieder zu zucken. Du hast keine Hand hinter deinem Rücken. Es war nur eine spaßhafte Wendung.
Da, das Ende des Tunnels. Wir sausen hinaus. Es ist wie eine kleine Neugeburt, findest du nicht? Gut, der Wald ist ziemlich dunkel. Doch bald machen wir Station im belgischen Moresnet. Dort sehen wir einen Kalvarienberg und daneben eine Wallfahrtskapelle. Die gucken wir uns in der kommenden Nacht an. Und wir gehen auch hinüber in ein uriges Café.
Kommst du wieder mit morgen Nacht?
Dann kriegen wir jetzt den Dreh. Sagen uns Tschüs und gute Nacht, ein trockener Kuss geht hin und her. Deine Lippen sind kalt. Fühlt sich trotzdem gut an.
Mindestens so gut, dass man davon träumen kann.
Gute Nacht, meine Liebe
E-Lok oder Bernzieh
Unsere Strecke, das muss ich jetzt einmal sagen, ist natürlich nicht immer frei. Es kommen uns manchmal Güterzüge entgegen. Wir können von Glück sagen, wenn es nicht gerade im Tunnel passiert. Dann würde es sehr laut oder schrecklich laut, je nachdem. Die deutschen Loks sind nur laut, sie fahren mit Strom. Doch im Tunnel endet die Oberleitung. Also fahren die deutschen E-Loks wieder zurück, nachdem sie den donnernden, fauchenden belgischen Dieselloks geholfen haben, den Anstieg zu nehmen.
Übrigens, E-Lok: Der „Allgemeine Deutsche Sprachverein“, der sich heute „Gesellschaft für Deutsche Sprache“ nennt, war zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft ganz wild darauf, die deutsche Sprache zu reinigen. Sie haben Fremdwörter gejagt wie die Irren. „Elektrizität“ sollte „Bern“ heißen. Nach Bernstein, der ja elektrisch wird, wenn man ihn an Wolle reibt. Jedenfalls hieß die E-Lok nach ihrem Willen eine Weile „Bernzieh“. Und aus dem „Apotheker“ machten sie: „Gesundheitswiederherstellungsmittelzusammenmischungsverhältniskundiger“.
Das ist meines Wissens das längste Wort der deutschen Sprache. Vielleicht steht es in einem alten Duden? Es könnte aber auch von Turnvater Jahn stammen. Der hat im 19. Jahrhundert Fremdwörter gejagt. Ist ja auch irgendwie Sport.
Bist du eigentlich warm genug angezogen? Nicht, dass ich am Ende noch am Nachtschalter ein Gesundheitswiederherstellungsmittel besorgen muss.
Wir steigen wieder die Böschung zum Gleiskörper hinab. Hier ist es rutschig von unseren Füßen gestern. Pass gut auf deine Füße auf, Pflaster habe ich nicht.
Kein Zug zu sehen? Dann rasch über die Gleise!
Kennst du den Witz, als Tünnes den Scheel trifft, der auf Socken über ein Bahngleis läuft?
Ist aber ein Sparwitz, halt dich fest! Nicht an mir, sonst rutsche ich auch.
Scheel fragt den Tünnes: Warum läufst du auf Socken?“
Tünnes sagt: „Hier steht es doch: G(e)leise nach Köln!“
Die Klammern habe ich gesetzt, falls du zu müde bist, den Witz zu verstehen. Lach nicht, das ist ernst.