Jules van der Ley

Nachtschwärmer Online


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flutsch - sind wir draußen. Siehst du, und es hat gar nicht wehgetan.

      Jetzt rollen wir nach Hause. Guck dich nicht um, du bist müde.

      Da an der Bleiberger Straße, unweit von meinem Haus, spring ich ab. Ich will noch ein Stückchen laufen. Und du bist dann bald am Westbahnhof. Von da hast du Anschluss zu dir nach Hause. Du schließt die Tür auf und bist auch schon drin. Ruh’ dich gut aus, es geht bald weiter. Ach ja, ich hab was vergessen. Kommst du einmal ein kleines Stückchen näher?

      Hier, der trockene Gutenachtkuss auf dein Haar.

      Schlaf gut!

      Es dreht sich

      Weißt du, wohin wir heute fahren?

      Also, den Viadukt, den fahren wir noch nicht. Es war schon gut, dass es letztens nicht ging. Man soll solche Zeichen nicht missachten. Der Tunnel ist schon schlimm genug.

      Darf ich deine geschätzte Aufmerksamkeit einmal auf den Weg lenken? Sonst stoßen wir zwei gleich irgendwo an. Man kann stolpern, wenn man seinen Weg nicht würdigt, weil man in Gedanken ist.

      Ich glaube, du musst heute auch ein bisschen auf mich aufpassen. Dass ich nicht zu sehr in Gedanken gerate. Machst du das? Gibst du mir mal deine Hand?

      Man darf nämlich auch als Mann mal eine Schwäche zeigen. Wer niemals schwach ist, ist auch niemals stark. Und stark muss ich sein, meine Liebe, sonst kann ich die Nachtdraisine nicht fahren.

      Wie fahren heute nicht weit. Ich hoffe, du bist mir nicht böse. Also, wir steigen hinab zu den Schienen. Siehst dort drüben eigentlich den Lousberg? Den mag ich ziemlich gern, diesen Berg. Er hat was Gutes, das spürt man da.

      Oben steht ein Drehturm. Er war mal ein Wasserturm, da war er zu was gut. Jetzt ist ein Drehcafé darin. Warst du schon einmal in einem Café, das sich dreht? Muss das sein? Ich meine, wozu ist es gut? Braucht man dort den Löffel im Kaffee nicht zu drehen, weil sich das Café um den Löffel dreht?

      Jetzt musst du lachen, das ist gut. Bringst du eine Frau zum Lachen, hast du mindestens zehn Punkte.

      Ich helfe ich dir über die Gleise – pass auf, da liegt Draht und anderer Kram, hier fährt kein Zug mehr!

      Weißt du, warum es hier am Westbahnhof so wüst aussieht? Die Bahn spart, wo sie kann, damit sie die glitzernden Hochgeschwindigkeitszüge und die neuen Trassen überhaupt bezahlen kann.

      Hier war einmal ein großer Güterbahnhof. Jetzt siehst du kaum noch einen Menschen. Irgendwie macht mich das traurig. So ein großer Bahnhof und keine Menschen von der Eisenbahn.

      Ja, du guckst mich an? Ich bin nicht von der Eisenbahn. Ich komme vom Teppichhaus. Und das Teppichhaus hat nur eine Nachtdraisine. Wenn ich ne Eisenbahn hätte, sähe es in Deutschland anders aus.

      Schon nach zehn. Und wir sind noch kein Stück gefahren. Du merkst, ich bin heute nicht so frisch. Weißt, was wir machen? Wir fahren einfach. Setz dich! Los, rauf auf das Ding!

      Sitzt du gut? Ich spring hinterher. Und schon rollt es los, unser Zaubergefährt. Wir gucken nicht auf die Uhr. Die Räder der Draisine geben uns den Takt. Schon geht der Fahrtwind, ich muss rufen. He, das geht jetzt schnell! Und jetzt kommt etwas Komisches. Wir fahren einen Hügel hinauf. Den braucht man, um die Waggons zu sortieren. Sie rollen dann vom Hügel hinab, und irgendwo hinten im Stellwerk sitzt einer und stellt die Weichen. Ne, der ist jetzt zu Hause. Die Lampen scheinen für nichts. Außer uns sieht das hier keiner. Ist auch kurios, findest du nicht?

      So, jetzt aber den Hügel hoch gebraust. Halt dich fest an mir, sonst hebst du ab! Denn nach der Kuppe geht es wieder hinab. Das ist so ein bisschen wie eine sanfte Achterbahn.

      Sanfte Achterbahnen finde ich gut. Wenn das Leben wie eine sanfte Achterbahn verläuft, kann man sich freuen. Dann ist zwar immer was los, doch man hebt nicht vom Teppich ab und man fällt auch nicht in den Keller.

      Sag mal, du merkst es, weit kommen wir nicht. Ich gebe mir ja wirklich redliche Mühe. Trotzdem reicht es nicht für eine lange Geradeausfahrt. Immerhin haben wir ein bisschen gespielt. Wir waren wie Güterwaggons unterwegs, wenn sie sortiert werden. Das ist wirklich ein guter Trick. Wenn man zu angespannt ist, hilft das absichtslose Spiel.

      Du, meine Liebe, ich danke dir sehr. Du warst mir heute eine gute Freundin. Komm, wir steigen ab, und ich bringe dich bis an die Tür. Das bin ich dir schuldig, weil wir nicht so weit gefahren sind.

      Kommst du trotzdem morgen wieder mit?

      Ich würde mich freuen.

      Gute Nacht, meine Liebe. Und hier der trockene Kuss.

      Auf dem Salvatorberg

      Hörst du, wie die Orgel braust?

      Wir befinden uns auf dem Salvatorberg. Versteckt zwischen Büschen und Bäumen steht die Salvatorkirche. Es ist auch ein Kloster nebenan. Das Licht, das du manchmal zwischen den Zweigen siehst, ist die Laterne, die über dem Eingang der kleinen Kirche baumelt

      Was ist es nur an den brausenden Orgelklängen, das einen so erfasst und eine ganze Weile nicht loslassen will? Kürzlich habe ich es schon einmal erlebt. Ich kam vom Lousberg herunter, und da brauste plötzlich eine Orgel. Es steht keine Kirche dort, und ich fragte mich, wo es herkam. Dann fand ich eine Toreinfahrt. Ich trat auf einen großen quadratischen Innenhof. Schmucke Gebäude ringsum. Eine Akademie oder so?

      Woher die Orgel brauste?

      Ich kam nicht hinein, die geschnitzte Tür war verschlossen. Auf einem Schild sah ich, dass man dort Kirchenmusik lehrt.

      Es ist etwas an den Religionen, was alle berührt. Die Gnade, an einen bestimmten Gott zu glauben, habe ich nicht. Doch welche Rituale ein Glaube hat, welche Ideen hinter einem Glauben stecken, was ein Glaube für Menschen bedeutet, - das interessiert einen Agnostiker wie mich. Denn an eine Weltordnung und an etwas Größeres als den Menschen glaube ich wohl.

      Komm, wir nehmen diesen Pfad durch die Büsche zur Salvatorkirche. Sieh dich vor, dass du im Dunkeln nicht stolperst.

      Die wenigen Stufen steigen wir hinan, - und auf mit dem Portal! Wir wollen die Orgel hören, wir wollen, dass ihr Brausen unsere Herzen erhebt!

      „Wir hören eine Weile zu, - danach raune ich dir das Weitere ins Ohr, gut?“

      Ach, komm, wir treten ein wenig zurück in den Vorraum. Du wirst mich sonst nicht hören. Du bist weit weg, die Musik hat dich erfasst. Das Brausen der Orgel ist durch dich hindurch gegangen.

      Hallo, bist du da?

      Gut, dann stell dir doch einmal vor, in den Bankreihen des Kirchenschiffes säßen fromme Mönche. Es sind Benediktiner, sie sind besonders streng mit sich.

      Und nun haben sie sich hier versammelt, um eine Nachtmesse zu feiern. Ein jeder hat eine kleine Kerze auf seinen Daumennagel geklebt. Die Mönche murmeln und singen die Sprache der Engel, also Latein. Hast du schon einmal Latein gesprochen? Und? Wie fühlt es sich an, die Sprache der Engel zu sprechen?

      Fremd? Leider kann ich kein Latein, und trotzdem habe ich als Kind Latein gesprochen.

      Es ist unlogisch? Ja, so mag es klingen. Doch genau das ist es, - ich weiß nur, wie Latein zu klingen hat. Als Kind war ich Messdiener. Es war zur Zeit der Alten Liturgie, das heißt, die Messe wurde auf Latein gehalten. Keiner der älteren Messdiener konnte Latein. Es waren Bauernsöhne, und hast du schon einmal eine Kuh auf Latein aus dem Stall getrieben? Die würde sich wundern.

      Also, die älteren Messdiener lernten die Neulinge an. Mir sagten sie auswendig das Confiteor auf. Sie hatten es selber so gelernt, durch mündliche Überlieferung. Und gewiss gab es in dieser mündlichen Überlieferung den „Stille-Post-Effekt“.

      Was bei mir ankam aus der Vergangenheit von den Vorvorgängern, die während der Messe einst gedient hatten, was ich also von Maul zu Ohr zu Maul zu hören bekam, war zweifellos