Jules van der Ley

Nachtschwärmer Online


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mit Schraubverschluss

      Glaubst du eigentlich, dass es draußen angenehmer ist, wenn der Wind aus Westen kommt?

      Guck mal zum Fenster hinaus. In welche Richtung neigen sich die Bäume vom Moresneter Kalvarienberg? Nicht zu sehen bei der Dunkelheit?

      Sag mal, Madame Grosch wird gleich kommen und uns unwirsch fragen, ob wir etwa noch was trinken wollen. Sie war ja schon auf dem Sprung ins Bett, als wir zur Tür reinkamen.

      Wir könnten eigentlich weiter. Nur, dass uns draußen natürlich bittere Kälte erwartet. Das schreckt ein bisschen ab. Ich bin mir auch nicht sicher, ob der Wind wirklich auf West gedreht hat. Der Mond scheint taghell, siehst du das?

      Wenn der Mond so klar und hell am Himmel steht, können wir eigentlich keinen Westwind haben. Denn der treibt vom Atlantik immer wieder Wolken heran. Vielleicht kommt der Wind aus Ost oder Süd. Dann ist es zwar kalt, doch die Kälte ist trocken. Die Kälte, die der Westwind macht, die geht dir leider durch alles durch. Da hilft auch deine dicke Jacke nicht. Bei Westwind in dieser Jahreszeit, da musst du dich nicht warm anziehen. Nein, du musst dich ganz warm anziehen.

      Weißt du, was wirklich witzig ist? Man hat ja bei diesem Wetter manchmal Schwellenangst, steht in der warmen Stube, hinter einem bullert der Ofen von Madame Grosch und man denkt: Was, da soll ich jetzt hinaus? Und dann auch noch in finstrer Nacht? Ja, aber mit der Schwellenangst hat es etwas Seltsames. Sie dauert nicht eine Sekunde lang, dann bist du schon drüber. Siehst du.

      Was dir von drinnen im Café noch kalt und unwirtlich vorkam, ist jetzt eine schöne klare Nacht. Der Wind hat nachgelassen. Wir haben uns bei Madame Grosch gestärkt, sind warm angezogen, die Luft riecht gut, was willst du noch mehr.

      Irgendwie, findest du das nicht auch, irgendwie riecht es hier immer ein bisschen nach Fritten. Der Geruch hängt so leise süßlich in der Luft. Wie ein feines Parfum, das man aber selber nicht unbedingt haben möchte.

      Na ja, wir sind in Belgien. Es ist schon ein bisschen exotisch, dieses Land. Du merkst es an vielen Dingen. Nur ein Beispiel, - wir überqueren hier die Straße – ein Beispiel: Wenn du an der Kapelle entlang nach Südosten schaust, dann liegt hinter den bunt gewürfelten Häusern aus Bruchsteinen ein Tal. Und rate mal, wer da seinen Reiterhof hat!

      Kannst dich an „Heitschi bummbeitschi…“ erinnern? Nein, du warst vielleicht noch zu jung, als Heintje das sang. Allerdings sieht man die alten Aufnahmen immer wieder mal im Fernsehen. Heintje heißt heute Hein Simons. Und Hein Simons hat hinter Moresnet einen allseits beliebten Reiterhof. Ich will jetzt nichts Falsches sagen. Denn ich habe schon lange nichts mehr darüber gehört. Weil in den letzten Jahren meine Ohren ein bisschen zu gewesen sind, weißt du?

      Früher fuhr ich hier oft mit dem Rennrad lang. Im Hellen natürlich. Da sah ich manchmal ganze Busladungen frommer Frauen. Die Busse kamen aus dem Ruhrgebiet und werweißwo her. Die Frauen gingen zuerst auf den Kalvarienberg. Liefen ihn ab – sag, hättest du dazu Lust? So im Dunklen auf einem Kalvarienberg? Das hast du bestimmt noch nicht oft gemacht. Ich will dich heute nämlich nicht auf den schrecklich hohen Viadukt schleppen. Du bist mir eigentlich zu schade, da werde ich dich nicht auf eine eisige Brücke fahren! Du würdest ja zweimal frieren. Einmal weil der Wind dort oben immer heftig weht, und zum anderen, weil du dich vor der Höhe fürchtest.

      Und wer weiß, ob der Beamte aus Welkenraeth mir überhaupt die Wahrheit gesagt hat, als ich ihn heute Morgen telefonisch über den Zustand der Brücke befragt habe. Man darf die Leute hier nicht zu wörtlich nehmen. Sie sind oft ein wenig phlegmatisch. Das macht sie andererseits liebenswert, je nach dem, wie sich der Phlegmatismus bei einem auswirkt.

      Also, atmosphärisch gesehen, sind mir die Wallonen fremder als die Niederländer oder die Flamen. Trotzdem bin ich immer wieder gerne hier, besonders sonntags. Ich weiß nicht warum. Vielleicht liegt es daran, dass die Wallonen in vielen Dingen so herzlich kitschig sind. Du wirst das gleich auf dem Kalvarienberg sehen.

      Ja doch, du brauchst mich nicht zu schubsen, ich erzähle noch von den Busladungen frommer Frauen. Also zuerst zogen sie in Rotten, Rudeln, Haufen oder freundlichen Gruppen über den Moresneter Kalvarienberg. Dann runter in die Kapelle. Geld raus, Kerzen aufgestellt.

      „Sollen wir noch ins Café von Frau Grosch?“

      „Ne, dat jeht nit, dä Busfahrer wartet!“

      Wenn der Busfahrer sie alle wieder eingeladen hatte, fuhr er die Frauen zu Heintjes Reiterhof. Weil Heintje einst so schön „Mama!“ gesungen hat. Man muss das verstehen, viele Mamas werden vermutlich zu wenig gedrückt zu Hause, so wie ich dich jetzt drücke.

      Willst du wirklich auf den Kalvarienberg? Weißt du überhaupt, was das ist? Ich bin ein abgefallener Katholik. Deshalb weiß ich, wozu man ihn hat. Ja ja, wenn du es selbst weißt, …

      Jedenfalls, - komm, wir gehen links rum! – jedenfalls finde ich die Grotten auf dem Moresneter Kalvarienberg ziemlich schräg. Du warst sicher schon mal in einem Märchenwald, wo solche Figurengruppen aus Kunstharz in typischen Situationen stehen.

      So machen die das hier. Die Mutter Maria zum Beispiel – du weißt ja, in Banneux gibt es die Mutter Gottes aus Plastik, mit nem Schraubverschluss oben auf dem Kopf. Da kannst du dann das heilige Quellwasser einfüllen. Und immer, wenn du ein bisschen heilig sein willst, drehst die Kappe von der Mutter Gottes ab und trinkst aus ihr.

      So eine Plastikmuttergottes kannst du hier auch finden, allerdings ohne Schraubverschluss. Und natürlich das ganze Volk, das zu einem Kreuzweg gehört. Man will sich alles handfest vorstellen, egal wie kitschig das wirkt. So sind die Belgier eben.

      Gute Nacht, meine Liebe!

      Verehrte Kundschaft,

      wegen anhaltenden Schneefalls und zunehmender Vereisung war das Befahren der Strecke Aachen-West - Moresnet - Plombiers (Bleiberg) und so weiter vergangene Nacht nicht möglich, - wobei Plombieres keinen Bahnhof hat, sondern nur Erwähnung findet, weil sich oberhalb des Ortes eine stählerne Brücke befindet, die sich auf mächtige gemauerte Pfeiler stützt, die ihrerseits so unfassbar hoch sind, dass es ein unverantwortliches Risiko wäre, die Strecke mit Ihnen an der Seite zu befahren. Denn dort oben ist nicht nur die Vereisung der Strecke schrecklich, es bläst auch leider ein sibirischer Wind.

      Aus diesem Grunde bieten wir Ihnen hier lediglich noch einige Minuten Wortgeplänkel, das, wenn Sie viel Phantasie haben, so ähnlich klingen mag wie das leise Rattern der Räder unserer allseits beliebten Nachtdraisine. Sie wissen schon, an den Nahtstellen macht es tocktock. Es ist fast das gleiche Geräusch wie das einer Tastatur. Allerdings geben wir zu bedenken, dass unser Tastaturbediener einen deutlich schnelleren Rhythmus hat. Falls Sie in diesem Text Tippfehler finden, dann denken Sie daran, es liegt am Winter. Vereisung der Tasten, nichts zu machen.

      Selbst im innerstädtischen Bereich, (wobei sie das Wort "innerstädtisch" nicht ganz ernst nehmen dürfen und das Wort "Bereich" eigentlich unnötig ist), also selbst innerhalb der Stadt ist die Strecke nicht sicher.

      Wir haben die örtlichen Verhältnisse hochgerechnet, das heißt, wir haben uns nicht per Augenschein davon überzeugen können, wie es nun wirklich ist dort oben auf der zugigen Brücke hoch über dem Flüsschen Geule. Die Geule ist zugefroren, in jedem Fall, doch ein Rinnsal ist sie nicht. Nur, wenn Sie jetzt hoch oben auf der Draisine säßen und würden einen Blick hinab werfen ins Tal, was wiederum nur ginge, wenn Sie absolut schwindelfrei sind; bei einem solch gewagten Blick hinab ins Tal hätten Sie den fälschlichen Eindruck, dass die Geule ein eisiges Rinnsal ist.

      Sie hätten jedoch wahrscheinlich kaum den Mut, sich über den Rand der Draisine zu lehnen; es sei denn, man hielte Ihre Hand. Nicht allein wegen der ungewöhnlichen Höhe der Brücke, sondern auch wegen der eisigen Böen aus östlichen Richtungen, die Sie hinabzufegen drohen.

      Schade, es hätte dramatisch oder immerhin romantisch werden können, wenn die örtliche Bahnverwaltung die Fahrt nicht untersagt hätte.

      P.S.: Inzwischen hat uns die belgisch hoheitliche Bahnverwaltung für die Provinz Lüttich mitgeteilt,