sich noch immer leicht benebelt, doch sie wusste, sie musste sich jetzt zusammenreißen. Kurz entschlossen löste sie sich von Robert und baute sich trotzig vor ihrem Vater auf. >>Wir sind so oder so geliefert<<, sagte Amy widerborstig und hielt dem wütenden Blick ihres Vaters ohne mit der Wimper zu zucken stand.
>>Geliefert?<<, donnerte Sam. >>Musst du es noch schlimmer machen, indem du abhaust?<<
Amy griff sich an den Kopf, schloss die Augen und stöhnte leise. Die laute Stimme ihres Vaters tat ihr weh.
>>Hören Sie auf<<, fuhr Robert Sam an. >>Wir hatten einen Unfall, Amy geht es nicht gut. Vielleicht hat sie sogar eine Gehirnerschütterung.<<
Sam aber interessierte das nicht. Mit seinem Einwand hatte Robert nur erreicht, dass Sams Wut sich jetzt ganz auf ihn konzentrierte. >>Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun und zu lassen habe<<, brüllte er los. >>Ohne Sie wären wir jetzt alle in Sicherheit, aber nein, Sie müssen ja hier auftauchen! Wir hätten Sie zu Fuß wegschicken sollen!<< Sam bedachte Robert mit einem vernichtenden Blick, der ihm durch Mark und Bein ging. In dem Moment reichte es Robert. >>Erfahre ich jetzt bitte, was hier los ist?<<, fragte er scharf.
>>Wir sollten es ihm sagen<<, sagte Amy beschwörend zu ihrem Vater.
>>Er wird dir nicht glauben, aber mach was du willst. Machst du ja ohnehin. Ich bin in der Küche.<< Die Tür laut hinter sich zuknallend, verließ Sam die Eingangshalle.
Draußen brach mit einem Schlag endgültig die Dunkelheit herein. Robert schaute erstaunt aus dem Fenster. Wo eben noch das Grau der Dämmerung den Ort eingehüllt hatte, herrschte jetzt die Finsternis. Keine Straßenlampen brannten. Der junge Mann bekam es mit der Angst zu tun. Was ging hier vor sich?
>>Amy?<<, fragte Robert.
Sie nahm ihn am Arm und führte ihn zu der kleinen Sitzgruppe in der Halle.
>>Setzt dich!<<, sagte sie. >>Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.<< Warum hatte Robert das Gefühl, dass ihm wirklich nicht mehr viel Zeit - Lebenszeit - blieb?
Amy begann zu erzählen. >>Wie ich vorhin schon sagte, leben wir hier auf einstigem Indianerland.<< Robert nickte.
>>Aber das ist nicht alles<<, fuhr Amy fort. >>Es waren nicht irgendwelche Indianer. Sie wurden >>Miyaca<< genannt. >>Miyaca<< bedeutet so viel wie >>Wolf<<. Die >>Indianer vom Stamm des Wolfs<<, wenn du es so übersetzten willst. Sie lebten hier Jahrhunderte lang friedlich für sich und verehrten die Gottheit, die dem Stamm seinen Namen gab. Der Stamm der Miyaca brachte ihrem Wolfsgott regelmäßig Opfergaben dar, der Schamane hielt gemeinsam mit dem Häuptling den Kontakt zu ihm. Als Gegenleistung wachte Miyaca über sein Volk und versprach ihm Schutz vor jeglicher Gefahr. Dann kam der weiße Mann, der das Land der Miyaca für sich wollte, und den Indianern drohte die Vertreibung oder der Tod. Sie wandten sich an ihre Gottheit und er erhörte sie. Miyaca versprach ihnen, sie gegen den weißen Mann zu verteidigen. Der Legende nach wehrte er die Soldaten, die das Land einnehmen sollten, mehrmals erfolgreich ab und beschützte so sein Volk. Der weiße Mann aber war hinterlistig. In einer Nacht - es war die Halloweennnacht - brachen die Soldaten zu einem letzten tödlichen Schlag gegen die Indianer auf, denn dem weißen Mann war es gelungen zu verhindern, dass Miyaca die Welt der Sterblichen betreten und seinem Volk zu Hilfe eilen konnte. So rottete der weiße Mann die Miyaca aus. Doch der Wolfsgott sann auf Rache und er verfluchte mit dem letzten Sterbenden seines Stammes dieses Land. Sein Geist, so schwor er, würde über dieses Land auf ewig wachen und kein Weißer sollte jemals einen Fuß darauf setzen können.
Niemand nahm das ernst, doch genau ein Jahr später holte ein geisterhafter Wolf sich in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November seine Opfer in South Mills. Der weiße Mann bekam Angst. Das fruchtbare Land aber aufzugeben, kam nicht in Frage und so holte er sich Rat. Es gelang ihm im folgenden Jahr in der Halloweennacht noch einmal, den Wolf zu täuschen und dieses Mal zu einem Pakt zu zwingen, der ihn von South Mills fernhält. Seitdem müssen jedes Jahr an Halloween alle Einwohner von South Mills sich hier versammeln, egal wo sie leben. Es ist ein Teil der Abmachung. Dem Wolf werden außerdem Opfergaben gebracht. Welche es sind, erfahren wir im Laufe des Jahres durch Zeichen, die Miyaca uns schickt. Steve und Martin deuten sie. Dreimal so viele Opfergaben, wie Seelen im Dorf sind, das ist die Bedingung, damit der Wolf South Mills verschont. Passiert nur ein Fehler, bricht der Pakt, der Wolfsgott Miyaca ist frei. Durch deine Ankunft haben wir dieses Jahr eine Seele zu viel in unserem Dorf.<<
Amy machte eine kurze Pause. Robert, der staunend und ungläubig zugehört hatte, fragte sich, ob Amy die Geschichte wirklich ernst meinte und ob in dieser Nacht wirklich eine alte indianische Gottheit auf Rachezug durch South Mills ziehen würde.
Bei diesem Gedanken musste er ein Lachen unterdrücken. Das konnte Amy nicht ernst meinen. Sie aber sprach ruhig weiter: >>Wir haben versucht, die Männer, die das Ritual durchführen, zu erreichen. Vielleicht hätten sie noch etwas machen können, aber es war bereits zu spät. Marty konnte deinen Wagen nicht reparieren, deswegen versuchte ich, dich aus der Stadt zu schaffen, aber der Wolf musste bereits die Grenze zwischen den Welten passiert haben und hinderte uns. Er wird dich jagen Robert, dich und ganz South Mills.<< Mit dem letzten Satz brach ihre Stimme. Furcht vor dem, was kommen würde, stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Unvermittelt stand die junge Frau auf. >>Ich wünsche dir für die heutige Nacht viel Glück, du wirst es brauchen.<< Sie wandte sich zum Gehen, als Robert unsicher auflachte. >>Du, das ist eine ganz tolle Halloweengeschichte, aber du glaubst das doch nicht wirklich? Ich meine, der Wolfsgott eines Indianerstammes?<<
>>Du denkst, ich lüge<<, stellte Amy traurig fest.
>>Feiert deswegen niemand hier Halloween?<<, versuchte Robert abzulenken, um nicht antworten zu müssen.
>>Warum sollten wir einen Tag feiern, an dem wir jedes Jahr aufs Neue Gefahr laufen, zu sterben?<<
>>Du glaubst tatsächlich daran<<, stellte Robert fest. Bittend, ihr Glauben zu schenken, sah Amy ihn an. Robert spürte, wie Wut in ihm aufkam. >>Genug Spuk für heute Nacht<<, sagte er verärgert. >>Ich bin oben.<<
Robert ging hinauf und Amy in die Küche. Auf dem Esstisch hatte Sam bereits mehrere Pistolen und Gewehre ausgebreitet. Jeder in South Mills besaß welche. Amy und ihr Vater wählten ihre Waffen.
Robert lag in der Zwischenzeit auf seinem Bett und ärgerte sich. Dorftrottel, alle miteinander, dachte er bei sich. Ein Wolfsgott, der das Dorf heimsuchte, wenn man einen Pakt nicht erneuerte, also wirklich!
*
Steve und Martin sahen mit großer Angst, wie das mächtige Tier aus dem Bild stieg und senkten demütig den Blick. Der Geruch nach Raubtier wurde beinahe unerträglich. Der Wolf war riesig, pechschwarz, mit einem wunderschönen seidigen Fell. Jedes Jahr aufs Neue fragte sich Steve, wie etwas gleichzeitig so wunderschön und edel und so grausam und herzlos sein konnte.
Ein tiefes Knurren erklang. Der Wolf sprach in seiner Sprache zu den beiden. >>Ihr habt Glück gehabt und für ein weiteres Jahr Zeit gewonnen<<, knurrte das Tier.
Martin und Steve hoben die Köpfe. >>Wir danken dir<<, flüsterten sie mit heiseren Stimmen. Der Wolf drehte sich um, seine Konturen verschwammen, beide wollten schon aufatmen als der Wolf plötzlich ein schauderhaftes Heulen ausstieß und wütend herumfuhr. Mit einem Sprung warf er Martin zu Boden und bohrte seine Krallen in dessen Brustkorb. Martin keuchte schmerzerfüllt auf. Mit gefletschten Zähnen beugte sich der Wolf über ihn. >>Ihr habt mich betrogen<<, knurrte er. >>Ihr habt mir die Opfergaben für eine Seele vorenthalten.<<
Steve, der sich entsetzt an die Wand presste, stammelte: >>Nein, niemals. 300 Seelen, ich schwöre.<<
Der Wolf wandte seinen mächtigen Kopf Steve zu. >>Der Schwur eines weißen Mannes bedeutet nichts! Eine Seele kam in den Abendstunden nach South Mills. Ein Mann, ich kann ihn spüren. Auch für ihn stehen mir Opfergaben zu! Aber ich