Gerhard Wolff

Die Sümpfe


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Schlange hinausgeschoben wurde.

      Gleich darauf standen sie auf einem Platz und Sofia versuchte im grellen Licht mehrerer Scheinwerfer, zu erkennen, wo sie war. Sie standen in einem kleinen Hinterhof, der von mehreren, hohen Gebäuden umgeben war. Es schien ihr, als würde sie von den Mauern der Häuser erdrückt zu werden.

      Sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken. „Los mitkommen!“, befahl nun ein Mann und sie folgte ihm mit den anderen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie den Fahrern des Tanklastwagens etwas übergeben wurde, sie nahm an, dass es Geld war und noch während sie über den Hof gingen, stiegen die Männer wieder in ihren Wagen und fuhren davon.

      Gleich darauf befand sie sich mit den anderen in einem riesigen Schlafsaal. Ein Mann erklärte ihnen, dass sie auf den Pritschen schlafen mussten, dass sie sich einen Spind an der Wand für ihre Sachen aussuchen mussten und auf jeden Fall abschließen und den Schlüssel gut verwahren sollten, zeigte ihnen den Duschraum und die Toiletten, schließlich eine kleine Kantine.

      „Schrecklich!“, flüsterte Sofia.

      „Wieso?“, meinte Alwina. „Zu Hause sind die Sanitäreinrichtungen auch nicht besser.“

      Sofia musste zugeben, dass sie Recht hatte.

      „Ihr bekommt von uns drei Mahlzeiten am Tag …“

      „ … die ihr uns zu Höchstpreisen vom Lohn abzieht!“, murmelte Alwina, die in der Schule Deutsch belegt hatte.

      „Wenn ihr mehr zu essen wollt oder mal was anderes, dann müsst ihr es euch an unseren Automaten ziehen!“

      „Zu Höchstpreisen, versteht sich!“, wusste Alwina.

      Sofia hoffte, dass niemand Alwinas Einwürfe hörte, damit sie nicht schon am Anfang Ärger bekämen.

      Aber der Mann war so mit seinen Erklärungen beschäftigt, dass er sonst nichts mitbekam.

      „So!“, meinte er schließlich. „Morgen werdet ihr in die Arbeit eingewiesen. Dann wünsche ich euch jetzt eine gute Nacht!“ Damit ließ er die Gruppe alleine.

      Die Menschen verteilten sich im Schlafraum, verstauten ihre Sachen in einem der Spinde, suchten sich ein Bett neben ihren Freunden oder Bekannten und legten sich schließlich schlafen. Als alle im Bett waren, löschte jemand das Licht und sie fielen in einen tiefen Ermüdungsschlaf.

      15

      „Ich bring mal schnell den Müll raus!“, sagte Tom, schnappte sich einige der vollen Plastiksäcke, schulterte und schleppte sie durch die Fabrikhalle vorbei an ratternden Maschinen, schwitzenden Arbeitern und stinkenden Schweinekörpern zum Hinterausgang. Er war für die Beseitigung von Tierabfällen verantwortlich. Er suchte sich den Weg vorbei an den hängenden Schweinehälften, den Arbeitstischen und Fließbändern. Gleich darauf war er draußen. Er blieb einen Augenblick stehen, atmete tief durch und genoss die kalte, wenn auch nicht saubere Luft. „Verdammter Gestank!“, schimpfte er.

      Er hatte Arbeit im Schlachthof gefunden, aber es fiel ihm schwer, sich an den Lärm und die stickige, stinkende, schwülwarme Luft zu gewöhnen.

      Nun trug er die Müllsäcke eine Treppe hinunter in den Hinterhof, wo riesige Container auf den Müll warteten. Er warf die Säcke hinein und hielt einige Minuten inne, wobei er wieder die frische Luft einsog.

      „Mach, dass du wieder raufkommst!“, rief plötzlich eine Stimme hinter ihm.

      Tom fuhr herum.

      Der Schichtführer stand oben an der Treppe und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Du bist zum Arbeiten eingestellt, nicht zum faul herumstehen und frische Luftschnappen!“

      „Ich, ich bringe doch nur den Müll raus!“, entschuldigte sich Tom, obwohl er wusste, dass der Mann Recht hatte.

      „Du musst schon die Säcke voll machen! Du rennst ja dauernd mit halbleeren Säcken runter.“

      „Ich soll doch den Müll rausbringen!“, verteidigte sich Tom kleinlaut.

      Der Vorarbeiter schüttelte den Kopf. „Quatsch! Du rennst dauernd unter dem Vorwand raus, den Müll runterbringen zu wollen. Aber in Wirklichkeit drückst du dich vor der Arbeit. Du erfüllst nicht das, wofür du bezahlt wirst, Tom! Wenn das so weiter geht, werde ich dich rauswerfen müssen. Dann stehst du ohne Arbeit da. Das willst du doch nicht, oder?“

      Tom schüttelte den Kopf und ging die Treppen nach oben zu dem Schichtführer. Er blieb bei ihm stehen. „Kommt nicht wieder vor!“, versprach er.

      „Ich fürchte doch!“, wusste der es besser.

      Tom sah ihn fragend an. „Wie meinen Sie das?“

      „Du kommst mit den Arbeitsbedingungen nicht so gut klar, stimmt´s?“

      Tom nickte mit einem Anflug von Traurigkeit.

      „Du kommst doch vom Bauernhof, da habt ihr sicher auch geschlachtet. Da musst du doch die Schlachterei gewöhnt sein. Das kann dir nichts ausmachen, dachte ich“, meinte der Schichtleiter.

      „Nein, nein, das ist es nicht“, bestätigte Tom. „Aber ich komme vom Land und habe mein Leben lang draußen verbracht. Und nun das hier: Der Gestank und die Hitze und man darf kein Fenster öffnen. Und dann noch alles zusammen. Da muss ich mich erst noch dran gewöhnen“, erklärte er mit gesenktem Kopf. Dann sah er den Schichtführer schnell an. „Aber ich werde mich schon dran gewöhnen!“, versprach er.

      „Da bin ich mir nicht so sicher!“, entgegnete der Mann.

      „Doch bestimmt!“, versicherte Tom. „Ich bin jung und gesund. Das schaffe ich schon!“

      „Das glaube ich dir gerne!“ Er sah Tom kritisch an. „Ich frage mich, ob du es wirklich willst!“

      Tom nickte, weil er wusste, dass der Mann Recht hatte. „Ich werde es versuchen, bestimmt!“

      „Ja!“, meinte der Mann nachdenklich.

      „Ich brauche das Geld!“

      Der Schichtführer schwieg kurz und überlegte, warum sich dieser starke und kluge Junge das antat. „Eine Chance bekommst du noch, Tom!“ Er sah ihn nachdenklich an. „Sonst muss ich dich entlassen. Auch wenn ich dich verstehe.“

      „Danke, Chef!“, meinte Tom und eilte zurück an die ungeliebte Arbeit.

      16

      „Du musst schon schneller arbeiten!“, rief die Aufseherin Sofia zu und sah sie mit strengem Blick an. „Und ordentlicher! Das ist alles zu unsauber verarbeitet, alles zu ungenau. Das ist einfach nicht brauchbar, damit kann man nichts anfangen!“

      Sofia saß an einer Nähmaschine und sah verlegen und auch verängstigt zu ihr auf.

      „Du hast doch wie alle andern eine genaue Einweisung erhalten, oder warst du da etwa krank?“

      „Ich nicht krank!“, rief Sofia in gebrochenem Deutsch.

      „Ach, die Neuen, die verstehen doch gar nichts!“, rief die Aufseherin ärgerlich. „Da gibt man euch die beste Einweisung, die man sich vorstellen kann und dann habt ihr doch nichts kapiert, weil ihr die Sprache nicht versteht.“ Sie hielt inne und sah Sofia wieder streng an.

      „Nicht krank!“, wiederholte Sofia, obwohl sie ahnte, dass sie damit gar nicht das Problem traf, das die Aufseherin ansprach.

      Diese trat an die Nähmaschine heran, riss den Stoff heraus und hielt ihn Sofia hin. „Ungenau, unsauber, unbrauchbar! Du musst dir schon mehr Mühe geben! Du musst schon genauer arbeiten!“

      Sofia verstand und nickte ängstlich.

      „Du bist hier nicht in Albanien, sondern in Deutschland. Da musst du genau und sauber arbeiten, hörst du?“ Sie begann, alles was Sofia genäht hatte, wieder aufzutrennen.

      Sofia nickte und schlug die Augen verlegen nieder.

      Da sah sie die