Andy Glandt

Das Gedicht der Toten


Скачать книгу

       Vitt, Insel Rügen

       Weymouth, England

       Vitt, Insel Rügen

       Insel Rügen

       Vitt, Insel Rügen

       Anneliese Ehrmanns Ferienhütte – Insel Rügen

       Vitt, Insel Rügen

       Anneliese Ehrmanns Ferienhütte – Insel Rügen

       Mittwoch, 1. Juli 2009 - Weymouth, England

       Rostock

       Vorankündigung

       Impressum

       Kapitel 1

      Dies ist eine fiktive Geschichte.

      Ähnlichkeiten mit lebenden und nicht mehr lebenden Personen

      sowie realen Handlungen sind rein zufällig.

      Vielen Dank, dass Sie sich für dieses Buch entschieden haben. Über eine Rezension würde ich mich freuen, egal, ob Ihnen die Geschichte gefallen hat oder nicht. Sie können mir auch eine E-Mail schicken. Diese finden Sie im Impressum.

      Viel Spaß beim Lesen.

      Andy Glandt

       Februar 2006 - Vitt, Insel Rügen

      Mehrere Schaulustige standen vor der kleinen achteckigen Kapelle, ein beliebter Besuchermagnet für Touristen aus aller Welt. Doch am Vormittag dieses ungemütlichen Februartages war sie nicht für die Öffentlichkeit zugänglich.

      Die Tür öffnete sich und die Trauernden setzten sich in Bewegung, allen voran der Pfarrer, der aus Altenkirchen angereist war. Ihm folgten die engsten Familienangehörigen, denen sich etwa 30 Dorfbewohner anschlossen. Alle waren dick eingemummelt. Schmutzig-weiße Schneereste, die den Boden wie gemalte Tupfer bedeckten, zeugten vom zu Ende gehenden Winter. Dunkle Wolken zogen vom Meer herauf. Ein düsterer Tag für ein düsteres Ereignis.

      Keiner konnte den plötzlichen Tod dieser Frau verstehen, einer Frau, der das Schicksal hart mitspielte, die sich aber wieder aufrappelte, damals nach dem Unglück. Sie schwor dem Alkohol ab und schaffte es, ohne Mann ihre Kinder zu erziehen. Aus allen ist etwas geworden, aus allen, außer …

      Und nun? Akuter Herzinfarkt. Mit 58. Kam schreiend aus der Haustür gerannt und brach zusammen. Obwohl die Nachbarin gleich den Rettungswagen rief, hatte sie es nicht geschafft. In der Klinik war sie verstorben.

      Einige Meter entfernt parkte am Straßenrand ein gelber Polo. Er schien niemandem aufzufallen. Trotz Wolken verhangenen Himmels trug die Frau hinter dem Lenkrad eine dunkle Sonnenbrille. Sie sollte selbst Teil des Trauerzuges sein. Jeden kannte sie, aber sie hätte niemandem in die Augen schauen und schon gar nicht ihr Beileid bekunden können. Sie allein war verantwortlich für diese Szene, obwohl sie das nicht beabsichtigt hatte. Ihr wäre niemals in den Sinn gekommen, ihr Päckchen könnte so schreckliche Folgen auslösen. Sie wollte doch nur Gerechtigkeit.

      Sie sah die vier Kinder der Verstorbenen, die mit gesenktem Kopf, teilweise weinend, dem Pfarrer folgten. Ralf, der Hamburger Rechtsanwalt, Sylvia, die Modedesignerin, die in den Niederlanden lebt, Sabine, die Unternehmensberaterin aus Stralsund und Torsten, der Tierarzt aus Brandenburg. Wer hätte damals gedacht, dass alle vier einmal studieren würden. Sylvia und Ralf waren der Mutter sogar zeitweilig weggenommen und in ein Heim gegeben worden. Und wäre die Sache damals nicht passiert, hätte sich das Leben der Familie sicher in den gewohnten Bahnen fortgesetzt. Was wäre dann aus den Kindern geworden? Doch der Vorfall hatte der Frau einen Schock versetzt. Plötzlich war sie wie ausgewechselt, so, als ob sie aus einem langen Traum erwacht war.

      Der Trauerzug lief den Weg zum Dorf hinunter. Bevor er sich auflöste, spendeten die Trauernden den Angehörigen tröstende Worte, von denen jeder wusste, sie würden den Schmerz der Familie nicht lindern.

      Der Schmerz über den Verlust dieser Frau würde auch nach Jahren nicht versiegen, denn noch kannte niemand den wahren Grund.

       März 2009 - England

      Die Klinge des zweischneidigen Messers blinkte im Schein der Neonröhren. Sie näherte sich bedrohlich den vor Entsetzen starren Augen, Augen eines kleinen Mädchens. Eine hämisch grinsende Fratze begleitete diese Bewegung. Der Arm, in dessen Hand sich die Klinge befand, erhob sich langsam, ja zögernd, so als wolle er die Zeit auskosten, die letzten Sekunden dieses für ihn bedeutungslosen Individuums, um dann mit rasender Aggressivität vorzuschnellen und sich in den kleinen Körper zu bohren.

      „Neeeeeeiiiiiiiiin!“

      Mit einem Mark erschütternden Schrei fuhr Lisa hoch und saß aufrecht in ihrem Bett. Sie hielt die Hände vors Gesicht. Ihre Haare waren klitschnass, das T-Shirt klebte an ihrem Oberkörper und betonte ihre weibliche Figur.

      Normalerweise würde Marc, der durch den Schrei ebenfalls munter wurde, dieser Anblick erregen. Stattdessen schaute er sie bekümmert an. Sie hatte wieder geträumt.

      Lisas Hände zitterten. Wie zwei nie versiegende Wasserfälle rannen Tränen über ihre Wangen. Sie griff nach dem Taschentuch hinter ihrem Kopfkissen und schnäuzte sich.

      In letzter Zeit häuften sich die Alpträume wieder. Sie sah Dinge, die sie nie real gesehen hat, von denen sie nicht wusste, wie sie sich zugetragen haben, aber die Schreie, die sie damals hörte, damals vor mehr als 25 Jahren, ließen ihre Träume so real erscheinen, als ob sie selbst dabei, selbst eines der Opfer gewesen war.

      Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht mehr. Ich werde wahnsinnig, wenn diese Alpträume nicht bald aufhören.“ Sie wusste, warum sie diese Alpträume bekam. Hätte sie damals nicht geschwiegen, würden die Opfer vielleicht heute noch leben und die Täter säßen hinter Schloss und Riegel. Aber damals, mit sieben, konnte sie damit nicht umgehen.

      Nun waren die Träume wieder da, nach so vielen Jahren, in denen sie sie erfolgreich verdrängen konnte. Warum? „Sie werden wieder aufhören, ganz bestimmt“, redete sie sich ein.

      „Lisa, könntest du bitte Englisch reden?“ Marc legte seinen Arm um sie und zog sie an sich heran. „Du weißt, meine Deutschkenntnisse sind recht mager.“

      Lisa lehnte ihren Kopf an Marcs Schulter. Das tat gut. Es beruhigte sie. Zwölf Jahre waren sie nun verheiratet. Es gab keine Geheimnisse zwischen ihnen, keine, außer diesem einen. Damit wollte sie Marc nicht verängstigen, was sicher falsch war. Aber sie konnte sich ihm nicht anvertrauen, sie konnte sich niemandem anvertrauen.

      Seit fast 26 Jahren lebt sie in England. Ihre Mutter war 1983 mit ihr aus der DDR nach London gezogen. Sie hatte in dem kleinen Urlaubsort auf der Insel Rügen, in dem sie wohnten, Gregor, einen englischen Touristen kennen gelernt und sich in ihn verliebt. Sie stellte einen Ausreiseantrag für sich und Lisa und durch Gregors Beziehungen – er arbeitete in einer Regierungsbehörde in London – wurden die beiden schneller als üblich freigekauft. Wie genau das damals ablief,