Andy Glandt

Das Gedicht der Toten


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dem Staub gemacht. Da war sie gerade zwei Jahre alt geworden. Sie konnte sich kaum an ihn erinnern.

      Lisa war es recht gewesen, aus dem kleinen Dorf zu verschwinden. Sie hatte gehofft, durch den räumlichen Abstand die Schreie vergessen zu können, diese kindlichen Schreie, die sie immer wieder in ihren Alpträumen plagten. Nach etwa zwei Jahren war es ihr nach und nach gelungen, alles zu verdrängen. Nur in letzter Zeit häuften sich die Alpträume wieder. Sie wusste nicht warum. Mit einem Mal waren sie wieder da.

      Marc, den sie in Dorset auf der Party eines gemeinsamen Freundes kennen lernte, bekam davon zum Glück nur selten etwas mit. Er war Stewart auf einem Kreuzfahrtschiff und oft tage-, manchmal sogar wochenlang unterwegs. Vor drei Tagen erst war er von einer Reise zurückgekehrt und ihm blieben noch zehn Tage bis zur nächsten Fahrt.

      Lisa war sich im Klaren, dass sie etwas unternehmen musste, etwas, das ihr Innerstes beruhigte, etwas, das die Alpträume ein und für alle Mal verschwinden ließ. Wenn Marc wieder auf See war, würde sie im Internet recherchieren. Sie musste herausfinden, ob es diese Scheusale noch gab. Trieben sie weiterhin ihr grässliches Unwesen? Sie musste sie finden. Was sie dann machen wollte, wusste sie nicht. Das würde sie dann entscheiden.

      Sie schaute in Marcs besorgtes Gesicht. „Ist schon gut.“ Sanft streichelte sie seine Wange und gab ihm einen Kuss. „Es wird sich wieder legen.“

      „Warum erzählst du mir nicht von deinen Träumen.“ Er wusste, es hatte keinen Zweck, sie darum zu bitten, aber er versuchte es trotzdem immer wieder. „Oder wenn du mir dein Herz nicht ausschütten kannst, dann geh bitte zu einem Psychologen. Dort bekommst du professionelle Hilfe.“

      Sie schaute nachdenklich auf die kleinen roten Segelschiffchen, mit denen Bettbezug und Kopfkissen bedruckt waren. Ein Spleen von Marc. Er träumte davon, selbst mal ein Segelboot zu besitzen. Aber erst, wenn er in Rente ging und Zeit für so ein Hobby hatte.

      Sie wandte ihren Kopf und schaute ihn erneut an. „Lass uns nicht mehr davon reden, okay? Du bist nicht allzu lange zu Haus und die Zeit sollten wir besser nutzen, als uns über ein paar dämliche Alpträume den Kopf zu zerbrechen. Denkst du nicht auch?“ Ihr Lächeln war einfach bezaubernd. Wer hätte ihr etwas abschlagen können? Außerdem hatte sie ihren Kopf bereits unter seine Bettdecke gesteckt und wenn sie das tat, hörte bei Marc das Denken auf.

       April 2009 - Deutschland

       15.4.2009

       Liebe Mutti,

       endlich ist es soweit und ich kann den ersten Teil des dir gegebenen Versprechens einlösen. Ich habe sie alle gefunden und werde mich nach und nach um sie kümmern. Den Anfang mach ich mit Arnold. Er wohnt in Frankfurt am Main und ist Arzt, ein Urologe. Das Haus, in dem er wohnt, steht in einer der besseren Stadtteile der Mainmetropole. Heute bin ich noch einmal durch seine Straße gegangen. Es war ein warmer, sonniger Nachmittag. In den Vorgärten blühten Schneeglöckchen und Krokusse und sogar einige Osterglocken begannen schon zu sprießen.

       Seit einigen Wochen beobachte ich ihn. Er wohnt Parterre links und an seiner Wohnungstür hängt ein Schild mit der Aufschrift: Jeder ist willkommen. Das werde ich bald ausprobieren. Ich habe herausgefunden, dass er Anfang Mai in den Urlaub fährt. Es war nicht allzu schwer an seine Post zu kommen. Die Leute sind so sorglos und ließen mich einfach in den Hausflur, wenn ich vor der Tür stand und sie gerade herauskamen. Oder ich betätigte eine der anderen sieben Klingeln und behauptete, etwas in die Briefkästen stecken zu wollen. Diese hängen im Hausflur zwischen der Haustür und seiner Wohnung. Die meisten sind nicht abgeschlossen, auch seiner nicht. Dort scheint jeder jedem zu trauen.

       Anscheinend macht er oft Überstunden, denn er kommt immer erst spät nach Haus. Das kam mir zugute. Sobald die Post da war – sie kam immer zwischen zehn und elf – versuchte ich, in das Haus zu gelangen. Wenn er Briefe bekam, nahm ich sie an mich, ging in die kleine Wohnung, die ich mir in der Nähe gemietet habe und öffnete sie unter Wasserdampf. Nach dem Lesen verschloss ich sie wieder und brachte sie zurück.

       Was man da so alles über einen Menschen erfährt. Stell dir vor, im letzten Monat verdiente er 7.847 Euro. Bestimmt auf Grund der vielen Überstunden. Wird ihm bloß nicht mehr viel nützen.

       Jedenfalls erfuhr ich, dass er ab dem 4. Mai eine Frankreichrundreise plant. Nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug. Zwei Zugtickets bekam er bereits. Ich weiß nicht, ob noch weitere folgen werden oder ob er nur den Anfang bis nach Lyon gebucht hat und danach entscheidet, wie es weitergeht. Ich werde ihm die Entscheidung abnehmen, denn ich weiß, wie es für ihn weitergeht. So wie es aussieht, fährt er allein. Eine Freundin hat er nicht. Die hätte ihn sicher mal besucht und wäre mir aufgefallen. Er scheint überhaupt keinen Besuch zu bekommen. Jedenfalls habe ich nie einen gesehen.

       Wenn mein Plan gelingt, wird er zu dieser Reise nicht mehr kommen. Und mein Plan wird gelingen. Das verspreche ich dir. Einen Tag vor seiner Abreise werde ich ihn besuchen und dann wird sich herausstellen, ob das Schild an seiner Wohnungstür ernst gemeint ist.

       Du hörst wieder von mir.

       Deine B.

       23. April 2009 - Stralsund

      „Marion?“ Regina Vollmer ging nach hinten in den Aufenthaltsraum ihrer Apotheke, um ihre Kollegin zu holen, die sich gerade einen Kaffee eingoss und frühstücken wollte.

      Marion schaute auf und als sie das Gesicht ihrer Chefin sah, wusste sie Bescheid.

      „Nein, nicht schon wieder.“

      „Ich hab versucht ihn abzuwimmeln, aber er will nicht gehen, er will dich nur ganz kurz sprechen.“

      „Wie immer.“ Marion stöhnte. „Warum hat er erst diese Scheiße gemacht, wenn er jetzt wieder angekrochen kommt?“

      „Geh bitte zu ihm“, bat Regina sie. „Ich möchte nicht, dass er wieder Krawall macht, wie beim letzten Mal. Diesmal hole ich die Polizei.“

      „Gute Idee“, stimmte Marion zu. „Rufen wir die Polizei. Vielleicht begreift er dann, dass es kein Zurück mehr gibt.“

      „Bitte Marion, versuch es in Ruhe mit ihm zu klären. Die Polizei möchte ich nur im Notfall holen, nur dann, wenn er wieder ausrastet. Ihr seid erwachsene Menschen. Könnt ihr euer Problem nicht mal klären? Und zwar nicht hier im Laden?“

      „Sag ihm das. Für mich ist alles geklärt. Er hat eine Andere kennen gelernt, ich habe es akzeptiert, auch wenn es mir schlecht ging. Nun will er zurück. Und irgendwann kommt die Nächste. Ne, nicht mit mir. Ich hab mich mit dem Gedanken zwar noch nicht anfreunden können, nun allein zu leben, aber so was soll mir nicht noch einmal passieren.“

      „Marion?“ Sie hörten ihn rufen. „Komm bitte kurz zu mir. Ich bin auch gleich wieder weg.“

      Widerwillig stand Marion auf und ging in den Verkaufsraum. Am Vormittag war zum Glück nie viel los. Er stand neben einem Regal, in dem unter anderem die Kondome auslagen. War das Absicht?

      Sie musste innerlich grinsen, als sie ihn in seinem grauen schlapprigen Lieblingspullover sah, den sie schon immer hässlich fand. Seine neue Flamme schien da wohl anderer Meinung zu sein.

      „Was willst du, Uwe? Wann kapierst du endlich, dass es kein Zurück mehr gibt? Es ist vorbei. Geh zu der…“

      „Okay, okay“, fiel er ihr ins Wort, „ich sehe ein, du lässt dich nicht umstimmen und ich akzeptiere es. Ich will dich nur fragen, wie wir es mit den Möbeln machen. Wir haben sie gemeinsam gekauft und ich denke, ein paar davon stehen mir zu.“

      Schlagartig wurde es Marion schwummrig vor den Augen. Sie musste sich setzen. Was war das? Lag es an der Endgültigkeit? Bis jetzt versuchte er immer, sie zurück zu gewinnen, aber nun wollte er sich mit der Trennung abfinden und einen Teil der gemeinsamen Möbel abholen. Sie hatte sich stark gefühlt,