Andy Glandt

Das Gedicht der Toten


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Südküste und hier in Weymouth, in der Grafschaft Dorset, einem Ort, der schon König George III als Erholungsort anzog, gefiel ihnen dieses Haus auf Anhieb.

      Marc war gestern wieder von einer Fahrt auf See heimgekommen und hatte nun fünf Tage frei. Lisa hatte keinen festen Job, half aber hin und wieder in einem Kindergarten ganz in der Nähe aus oder auch an der Abendschule, wenn die dortige Deutschlehrerin verhindert war. Aber wenn Marc zu Haus war, widmete sie ihm ihre ganze Zeit.

      Sie schnitt gerade Tomaten, die sie mit dem Paprika und etwas Fetakäse zum Salat vermengen wollte, als Marc zu ihr in die Küche kam und ein Stück des gelben Paprikas stibitzte. „In den BBC News kam die Nachricht von einem Leichenfund in Deutschland. Es soll sich um einen Doktor in Frankfurt handeln, der verdurstete. Man fand ihn nackt, an einer Tür gefesselt. Er soll scheußlich zugerichtet gewesen sein.“

      „Tja, so was soll vorkommen“, entgegnete Lisa. Sie unterbrach ihre Arbeit nur kurz, um ihm einen Klaps auf die Finger zu geben, die schon wieder in die Schüssel langten. „Ich lass dich auch gleich verhungern, wenn du nicht sofort deine Finger aus der Schüssel nimmst.“

      Er grinste sie schelmisch an. „Fesselst du mich dann auch?“

      „Wenn du so weiter machst, dann ja.“

      „Und dann, was machst du dann mit mir?“ Er fuhr mit einer Hand unter ihr T-Shirt. Zu Hause trug sie keinen BH, aber noch bevor er ihre Brust erreichte, kreischte sie.

      „Ah! Nimm deine kalten Pfoten weg!“ Sie packte seine Hand und schob sie von sich.

      Er nutzte die Gelegenheit, nahm sie in den Arm und küsste sie. „Ich liebe es, wenn ich um dich kämpfen muss.“

      „Ja, ja, ich weiß, aber wenn ich hungrig bin, hast du keine Freude an mir, das weißt du. Also, deck schon mal den Tisch. Der Salat ist gleich fertig. Übrigens ist es kurz vor sechs, also kurz vor sieben in Deutschland. Ich möchte die Nachrichten sehen. Da wird man sicher auch etwas über den Toten berichten.“

      Sie stieß ihn sanft von sich. Er grinste, nahm zwei Teller, Schälchen und Besteck und ging damit ins Wohnzimmer. Lisa folgte ihm kurz darauf, in der einen Hand die Schüssel mit dem Salat, in der anderen einen Brotkorb. Sie setzte sich zu ihm und Marc füllte den Salat in die Schälchen. Die ZDF-Nachrichten begannen gerade.

      „Im Frankfurter Stadtteil Nied kam es heute zu einem grausamen Fund. In einem 8-Familen-Haus wurde eine Leiche entdeckt. Es soll sich um einen 55-jährigen Arzt der Urologischen Uniklinik handeln, wahrscheinlich um Dr. Gerald Arnold. Der Name wurde aber bis jetzt nicht bestätigt. Nach ersten Ermittlungen war der Mann schon über eine Woche tot. Er wurde an eine Tür gefesselt aufgefunden und soll Verletzungen im Genitalbereich aufweisen, die aber nicht die Todesursache sind. Der Mann, dessen Mund zugeklebt war, ist verdurstet. Er war nach seinem Urlaub drei Tage überfällig. Da er nirgends aufzufinden war und auch nicht ans Telefon ging, informierte die Klinik die Polizei. Wir halten Sie weiter mit Informationen auf dem Laufenden. Alle Fakten finden Sie auch auf www.heute.de.

       In Berlin wirft die nahende Bundestagswahl ihre Schatten voraus...“

      Lisa nahm die Fernbedienung und stellte den Ton leiser. „Verletzungen im Genitalbereich. Da scheint jemand ganz schöne Wut auf ihn gehabt zu haben.“

      „Vielleicht hat er jemanden vergewaltigt?“, warf Marc ein.

      „Ja, vielleicht.“ Dr. Gerald Arnold. Hm.

       Vitt, Insel Rügen

      Kerstin geriet leicht in Panik, als sie die Nachricht über die gefundene Leiche in Frankfurt hörte. Auch sie saß mit ihrem Mann Georg beim Essen und sah dieselben Nachrichten wie Lisa und Marc in England.

      Abrupt hörte sie auf zu kauen. Die Farbe wich ihr aus dem Gesicht.

      „Was ist los?“, fragte ihr Mann. „Kennst du ihn?“

      „Ich weiß nicht“, erwiderte Kerstin. Sie wandte ihren Blick nicht von dem Bildschirm ab, obwohl die Nachrichten sich schon wieder politischen Themen zugewandten.

      „Woher? Was hast du mit einem Arzt in Frankfurt zu tun?“

      Kerstin fing sich wieder. „Nichts, aber der Name macht mich stutzig. Ich kannte mal einen Gerald Arnold. Er wohnte in Putgarten, damals, als ich gerade in der Schule anfing. Und er hat in Rostock Medizin studiert.“

      „Und du meinst, es ist derselbe? Und selbst wenn, warum nimmt dich das so mit? Du bist ja richtig blass geworden. Hattest du mit ihm ein Verhältnis?“

      „Nein, nein“, stritt sie vehement ab.

      „Du kannst es mir ruhig sagen. Es war vor meiner Zeit.“

      „Wenn ich sage, ich hatte mit ihm kein Verhältnis, dann ist das auch so!“, kläffte sie ihn an.

      Er sah erschrocken auf.

      Kerstin wurde gewahr, dass sie zu hart reagiert hatte. „Entschuldige. Ich kannte ihn einfach und wir haben uns auch manchmal unterhalten. Das ist alles.“

      „Okay, okay“, Georg hob abwehrend die Hände. Er hasste es, wenn Kerstin aufbrauste. Aber er kannte sie gut. Sie tat es immer dann, wenn er etwas richtig vermutete, sie es aber nicht eingestehen wollte. Na, es war ihm wirklich egal, ob die beiden liiert waren. Es war definitiv vor seiner Zeit. „Gerald Arnold ist sicher ein Name, den es öfter gibt. Der Tote muss mit deinem Bekannten überhaupt nichts zu tun haben.“

      „Ja, sicher hast du Recht.“ Kerstin hatte sich soweit beruhigt, dass sie wieder ans Essen denken konnte, aber sie wurde das Gefühl nicht los; dieser Mord hatte etwas zu bedeuten.

      Wie gewöhnlich ging Georg zeitig ins Bett, wenn er zur Frühschicht musste. Sobald er seiner Frau eine gute Nacht gewünscht hatte und im Schlafzimmer verschwunden war, setzte sich Kerstin an den PC.

      Zuerst ging sie zu Facebook und tippte den Namen ein. Eine Liste von mindestens 30 Gerald Arnolds wurde ihr angezeigt. Sogar ein Baby in Ghana war dabei. Sie schmunzelte. Das war schon ungewöhnlich. Sie klickte alle an, aber es war keiner dabei, der in Frankfurt Arzt war oder dessen Foto ihr bekannt vorkam. Dann gab sie den Namen bei Google ein. Die ersten Treffer führten zu der Nachricht über den gefundenen Toten. Aber dann fand sie einen Link zur Urologischen Uniklinik Frankfurt. Dort gab es einen Oberarzt Dr. Gerald Arnold, leider ohne Foto. Sie musste also weiterhin mit der Ungewissheit leben, ob der Tote ihr Gerald Arnold war.

       Freitag, 22. Mai 2009 – Vitt, Insel Rügen

      Hört das Getöse an den Klippen

      Wie ein nahend Donnergrollen

      Seht der Wellen weiße Gischt

      Auf den Felsenstrand zurollen

      Ein Stein wird überspült vom Wasser

      Wie eine Jungfrau so schön und bar

      Durch Salz und Wasser er geformt

      In mehr als einer Millionen Jahr

      Er hatte einmal Ecken, Kanten

      Wie jeder Mensch sie haben sollt

      Doch gibt es Wellen in jedem Leben

      Von ihnen mancher wird überrollt

      Frank Cobbler saß vor dem Monitor und konnte nicht begreifen, was er dort sah. Einen Fernseher besaß er nicht. Der würde ihn vom Schreiben abhalten. Trotzdem verfolgte er täglich die Nachrichten, entweder in der Zeitung oder im Internet.

      Vor zwei Tagen wurde eine Leiche in Frankfurt gefunden. Das war immer noch das beherrschende Thema. Die Polizei tappte im Dunkeln und ließ nur bruchstückweise ein paar Details an die Öffentlichkeit. Journalisten fanden heraus, dass der Täter dem Opfer eine Art Penisbruch zugeführt haben soll. Aber das hat die Polizei bis jetzt nicht bestätigt. Nur soviel, der Mann war schon über eine Woche tot und es gab die ersten Anzeichen von Verwesung. Laut