Andy Glandt

Das Gedicht der Toten


Скачать книгу

Anführungsstriche in der Luft, „von meiner Großmutter geerbt hatte. Zur Miete hätte ich mir damals nicht mal so eine Bude wie diese hier leisten können. Im April 2002 bin ich hier eingezogen und am 19. Mai war der Pfingsttanz. Dein Mann war auf Nachtschicht und dein Sohn mit dem Heim auf einem Ausflug. Du warst die erste Frau, die dieses Domizil betrat. Ich konnte damals nicht glauben, dass du schon 46 warst und nun“, er schaute ihr tief in die Augen und gab ihr einen sanften Kuss auf die Lippen, „nun glaube ich nicht, dass du schon 53 bist. Du bist für mich immer noch so anziehend, wie am ersten Tag, trotz der 17 Jahre Unterschied. Und was die andern betrifft, die sind nur ein billiger Ersatz, das weißt du.“ Er küsste sie auf die Wange.“ Wenn du so könntest, wie du wolltest, würden wir jetzt zusammenleben...“

      Sie lachte. „Nun fang ja nicht an zu spinnen. Du? Mit mir zusammenleben?“

      „Warum nicht? Ich hab ja nicht gesagt, dass ich dich gleich heiraten würde, aber wir müssten uns nicht mehr heimlich treffen.“ Er wartete, ob sie etwas erwidern wollte. Ihre Augen waren geschlossen. Sicher dachte sie darüber nach, wie es wäre, mit ihm zusammenzuleben.

      „Und“, fuhr er fort, „ich würde die andern Schnecken links liegen lassen. Keine hat deine Klasse. Aber du kannst nur montags und das auch nicht immer. Ich bin ein Mann in den besten Jahren und da ist mir einmal pro Woche oder nur alle 14 Tage nicht genug. Und übrigens“, er machte eine Pause, um die Bedeutung der folgenden Worte hervorzuheben, „du hast mir sehr geholfen. Du hast mich finanziell unterstützt. Sonst hätte ich mir einen Job suchen müssen und das Schreiben wäre Nebensache geblieben oder ich hätte es ganz aufgegeben. Das vergesse ich dir nie.“

      „Du hättest hier keinen Job bekommen“, warf Kerstin ein. Sie öffnete ihre Augen und schaute ihn an. „Du hättest woanders hingehen müssen und das wollte ich nicht. Und außerdem gefallen mir deine Gedichte. Das Schreiben hat sich ja nun auch gelohnt. Du hast endlich den Preis bekommen. Im vierten Anlauf.“

      Frank zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe nur, er lässt sich auch in bare Münze umwandeln. Ich habe zwar jetzt einen Vertrag mit einem Verlag, der einen Lyrikband von mir veröffentlichen will, aber reich werde ich dadurch sicher nicht.“

      Kerstin wand sich geschmeidig aus seinen Armen und setzte sich langsam auf. „Lass es auf dich zukommen. Wenn du erst mal den Fuß in der Tür hast, wer weiß, was sich da noch ergibt.“ Sie stand auf und ging ins Bad.

      Er liebte sie. Sie machte ihm immer wieder Mut. Ohne sie hätte er schon längst aufgegeben. Eine Zeitlang mit ihr zusammenzuleben wäre bestimmt reizvoll. Sie könnten sich lieben, wann immer sie wollten, ohne Rücksicht auf jemanden nehmen zu müssen. Aber es war auch gut, dass sie verheiratet war, obwohl er ihr das nie sagen würde. Er wollte die gelegentlichen Liaisons mit jüngeren Frauen nicht missen.

      Kerstin erschien wieder aus dem Bad und er sah ihr beim Anziehen zu. Wie machte sie das nur? 53 und so eine tadellose Figur. Das lag sicher nicht nur am Jogging und dem Fitnesstraining, sondern auch an den Genen.

      „Ach übrigens“, fiel es ihm ein, „das wollte ich dir neulich schon erzählen, vor anderthalb Wochen habe ich eine Frau im Dorf gesehen, eine Fremde, die mir aber doch irgendwie bekannt vorkam. Sie lächelte mich sogar an. Ist dir jemand aufgefallen?“

      Kerstin drehte sich zu ihm um. „Nein. Wie sah sie denn aus?“

      „Etwa so groß wie du, würde ich sagen, blond mit roten Strähnen. War schick gekleidet mit brauner Lederjacke und kurzem schwarzen Lederrock.“

      „Sicher eine Urlauberin.“ Sie schmunzelte. „Vielleicht auch eine Anwärterin für deinen Harem.“

      Frank sprang aus dem Bett, nackt wie er war, zog sie zu sich und gab ihr spielerisch ein paar Klapse auf den Hintern. Dann küsste er sie. „Ich lass dich gleich nicht gehen.“

      Sie sah an ihm herunter, sah seine wieder entfachte Erregung. „Dann sollte ich mich schnell auf den Weg machen. Bleibt es morgen dabei?“

      Frank schaute sie fragend an.

      „Sag bloß, du hast es vergessen?“

      Es dauerte eine Weile, bevor er begriff. „Aber natürlich bleibt es dabei. Ich muss mir doch heute schon meinen Fanclub für morgen aufbauen.“ Er lächelte. Kerstin hatte ihn gebeten, im Deutschunterricht eines seiner Gedichte vorzutragen und es mit den Kindern zu analysieren.

      „Welches Gedicht bevorzugst du?“

      „Die Entscheidung überlass ich dir. Sind ja deine Fans“, fügte sie verschmitzt lächelnd hinzu. „Irgendein Gedicht, das sieben- und achtjährige Kinder anspricht.“

      „Na, ich geh nachher mal alles durch.“ Er gab ihr einen letzten Kuss. „Es war wieder schön mit dir.“

      „Ebenfalls.“ Bevor sie die Tür schloss, winkte sie ihm noch einmal zu.

       Deutschland

       4.5.2009

       Liebe Mutti,

       du wirst es nicht glauben, aber ich habe es wirklich getan. Gestern. Den ersten Teil meines Versprechens habe ich eingelöst.

       Und das Kuriose ist, es war ganz einfach. Ich rechnete mit starker Gegenwehr, aber das Scheusal war so überrascht, dass ein einziger Schlag genügte, ihn niederzustrecken. Ich habe ihn beim Packen seiner Reisetasche gestört. Es war gut, bis zu seinem Urlaub zu warten. Nun wird ihn so schnell niemand vermissen.

       Du hättest ihn sehen sollen, als er zu sich kam. Ich glaube, er wusste anfangs nicht, wo er sich befand. Aber die Angst, die ich in seinen Augen sah, als er gewahr wurde, dass er nackt an seine eigene Wohnzimmertür gefesselt war, als er begriff, was das Video mit den Zahlen zu bedeuten hatte, habe ich so genossen. Und ich schaffte es, diese Angst in ihm zu steigern, sie in Entsetzen umzuwandeln, in dem ich ihn aufs Höchste erregte. Die qualvollen Schreie, die das Klebeband kaum dämpfen konnte, gaben mir eine enorm große Erfüllung. Kein Orgasmus könnte mich mehr befriedigen. Ich hatte befürchtet, seine Schreie könnten im Haus gehört werden. Aber er wurde schnell ohnmächtig und alles blieb still. Zum Glück wohnte er nicht in einem dieser neuen hellhörigen Plattenbauten. Da hätte man ihn bestimmt gehört.

       Ich schreibe dir nicht alle Einzelheiten, nur soviel, sollte er überleben, wird er als Mann nicht mehr zu gebrauchen sein. Weitere Einzelheiten wirst du vielleicht aus der Presse oder durch das Fernsehen erfahren.

       Die Vorbereitungen für die zweite Rache laufen bereits. Ich habe vor einigen Wochen in Stralsund einen netten Mann kennen gelernt. Es war natürlich mein Plan, ihn kennen zu lernen. Es dauerte eine Weile, aber irgendwann konnte er meinen Verführungskünsten nicht mehr widerstehen, obwohl er verheiratet ist. Nun habe ich ihn einige Zeit nicht gesehen. Ich sagte ihm, ich sei hier auf Dienstreise. Aber es gab einige Telefonate und mehrere SMS zwischen uns. Für übermorgen hat er mich zum Essen eingeladen. Er will mir eine Neuigkeit mitteilen. Ich denke, er hat sich nun endgültig von seiner Frau getrennt. Dann wäre ich einen Schritt weiter.

       Meine kleine Wohnung hier habe ich gekündigt. Morgen fahre ich wieder nach Stralsund. Mehr dazu später.

       Ich umarme dich

       Deine B.

       20. Mai 2009 - Weymouth, England

      Lisa stand in der Küche und bereitete das Abendessen vor. Immer wieder wanderte ihr Blick vom Paprika, den sie gerade für einen Salat wusch und zerkleinerte, nach draußen in den Garten. Sie liebte ihn, hatte ihn selbst angelegt. Im Frühjahr war er besonders schön. All die Margeriten, Krokusse, Primeln, Tulpen, Stiefmütterchen leuchteten farbenprächtig in der Sonne. Dieser Garten erinnerte sie an ihre Heimat, so hat sie ihn in Erinnerung.

      Noch nicht einen Tag hat sie es bereut, dass Marc und sie dieses kleine Häuschen gekauft haben. Das war vor fast vier Jahren.