Andy Glandt

Das Gedicht der Toten


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Nein, es hatte zu sehr wehgetan, als er ihr von der Anderen erzählte, als er die Wohnung verließ und nicht zurückkam. Aus Wut und Verzweiflung hatte sie damals gleich das Türschloss ausgewechselt, auch wenn das nicht rechtens war. Er besaß dort immer noch Wohnrecht, hatte sich aber darüber nie beklagt. Seitdem kam er immer in die Apotheke, um mit ihr zu reden und sie um eine zweite Chance zu bitten. Aber sie war hart geblieben und das würde sie auch bleiben.

      „Geht es dir nicht gut, Marion?“ Uwe schaute sie mit zärtlichem Blick an.

      Marion riss sich zusammen und erhob sich. „Doch, alles in Ordnung. Hab bloß heute viel zu tun und nun bringst du mich auch noch um meine Frühstückspause.“

      „Entschuldige. Es wird das letzte Mal sein. Wenn wir die Möbel geteilt haben, siehst du mich nicht wieder.“

      „Morgen Nachmittag habe ich frei.“ Ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt. Sie versuchte damit ihre Emotionen zu verbergen, was ihr nicht ganz gelang. „Wir könnten uns in einem Café treffen und darüber reden. Ab wann kannst du?“

      „Sagen wir 16:30 Uhr? Wo ist es dir recht?“

      Marion überlegte. Sie wollte nirgendwohin gehen, wo sie mit ihm war. „In der Wasserstraße gibt es ein kleines Café. Urig und gemütlich. Ich war da neulich mal mit Regina. Treffen wir uns dort halb fünf.“

      „Ich kenne das Café. Hast Recht. Ist wirklich gemütlich dort. Also bis morgen halb fünf.“

      Er drehte sich um und verließ die Apotheke.

      Das Café kennt er also, dachte sie. Mit mir war er dort nie. Sicher mit seiner Neuen.

      Sie ging nach hinten, setzte sich auf einen Stuhl und fing an zu weinen.

       3. Mai 2009 - Frankfurt

      Als Dr. Arnold die Tür öffnete, hatte er schon verloren. Die Faust traf ihn so unvermittelt und hart, dass er zu Boden stürzte. Bevor er noch erkennen konnte, was vor sich ging, wurde ihm ein Tuch vor Mund und Nase gedrückt und trotz Abwehrversuche schwanden ihm nach wenigen Sekunden die Sinne.

      Als er langsam wieder zu sich kam, wusste er nicht, ob es Realität war oder er sich in einem schlechten Traum befand. In seinem Kopf pochte es. Er vernahm ein leises Stöhnen und undeutliche Stimmen. Sein Mund war trocken, er konnte ihn kaum öffnen und sein Hals fühlte sich an wie Schmirgelpapier. Je klarer seine Gedanken wurden, desto mehr wurde ihm bewusst, sich nicht in einem Traum zu befinden.

      Er lag nicht, er stand, aber er konnte sich nicht bewegen. Er war gefesselt, gefesselt an seiner eigenen Wohnzimmertür. Warum? Was war passiert? Wage konnte er sich an das Klingeln und den Schlag erinnern. Hatte ihn ein Einbrecher überfallen?

      Er entdeckte die Quelle der stöhnenden Geräusche. Sie kamen aus seinem Fernseher. Dieser stand allerdings nicht wie üblich im Wohnzimmerschrank, sondern auf einem Stuhl direkt zwei Meter vor ihm. Er sah auf den Bildschirm. Schemenhaft waren Personen zu erkennen. Eine Frau stöhnte. Daneben schien eine kleinere Person zu liegen. Was sollte das? Warum zeigte ihm der Einbrecher einen Film? Dann entdeckte er die Kamera neben dem Fernseher. Wurde er gefilmt?

      Er erschrak. Erst jetzt stellte er fest, dass er nackt war. Seine Arme waren schräg nach oben an je eine Türecke gebunden, seine Beine leicht gespreizt. Er konnte sie nicht bewegen. Schnüre schnitten ihm in Stirn, Oberkörper, Schenkel und Knöchel. Sie fühlten sich an wie Angelsehne. Es konnte sich hier um keinen normalen Einbruch handeln. Aber was wollte man dann von ihm? War überhaupt noch jemand da? Wie viele waren es?

      Er hatte Urlaub. Ab morgen wollte er für zwei Wochen mit dem Zug durch Frankreich reisen. Eine Route hatte er grob festgelegt, aber an die würde er sich sicher nicht halten. Wie immer. Nur die ersten zwei Züge von Frankfurt nach Basel und dann weiter nach Lyon hatte er gebucht. Danach würde er sehen, wie es weitergeht. Auto fuhr er ungern, nur, wenn es unbedingt nötig war. Letztes Jahr hatte er eine Zugreise durch Großbritannien unternommen und war vollkommen entspannt zurückgekehrt.

      Er lauschte, hörte aber nichts außer den Geräuschen, die aus dem Fernseher drangen. Waren die Einbrecher schon fort? Aber warum war er dann gefesselt und das auch noch nackt?

      Um was ging es hier, um ihn? Hatte es jemand auf ihn abgesehen? Aber weshalb? Hatte es mit seinem Beruf als Arzt zu tun? Er war Urologe im Frankfurter Uniklinikum. Er überlegte. Ihm war noch nie ein Operationsfehler unterlaufen. Alle Patienten behandelte er zuvorkommend. Niemals hatte sich jemand über ihn beklagt. Damit konnte es nichts zu tun haben.

      In seiner Freizeit spielte er Tennis, obwohl er kein guter Spieler war. Aber auch da fiel ihm niemand ein, der etwas gegen ihn haben könnte.

      Es sah aus, als sollte er für irgendetwas bestraft werden, für irgendetwas einen Denkzettel bekommen, aber für was? Und vor allem von wem? Würden der oder die Täter wiederkommen und ihn losbinden? Er erschrak erneut bei dem Gedanken, dass niemand ihn suchen würde. Überall hatte er sich in den Urlaub abgemeldet. Würde jemand ihn hören, wenn er schrie?

      Seine Aufmerksamkeit wurde wieder auf den Bildschirm gelenkt. Zwischen den Filmszenen wurden nun kurz Zahlen eingeblendet. Wie lange schon? Die erste Zahl, die er wahrnahm, war eine 8. Kurz darauf folgte eine 3, der eine 1 und eine 9 folgten. Dann noch eine 8, eine 3, eine 1, eine 9; 8, 3, 1, 9. 8319. Immer wieder dieselben Zahlen. Was hatten sie zu bedeuten? 8319. Die Zahl sagte ihm nichts. Vielleicht eine andere Reihenfolge. 3198. Nichts. 9831. Nein, auch mit dieser Zahl brachte er nichts in Verbindung. 1983. Er stutzte. 1983. War damit das Jahr gemeint? Er wurde blass. 1983. Das war das Jahr... Nein, es konnte nicht sein. Alle, die sich hätten rächen können, waren tot. Der Fall war nie aufgeklärt worden. Die Beteiligten hielten dicht, darüber war er sich sicher und die Opfer waren unauffindbar entsorgt worden.

      „Na, ist dir was zu den Zahlen eingefallen?“

      Erschrocken wandte er seinen Blick nach rechts, woher die Stimme kam. Das war nicht einfach mit festgebundenem Kopf. Was er sah, ließ ihn das Blut in den Adern stocken. Im Türrahmen zu seinem Arbeitszimmer stand eine Frau. Blond, ziemlich groß und... außer Handschuhe und einer Augenmaske trug sie nichts. Obwohl er andere Sorgen haben sollte, fiel sein Blick zuerst auf ihren Busen und dann auf ihren Genitalbereich. Sie war rasiert.

      Sie stieß sich vom Türrahmen ab und bewegte sich langsam auf ihn zu. Bei jedem Schritt hüpfte sie ein wenig, sodass ihre Brüste leicht auf und ab wippten. Er konnte seine Augen nicht von ihr abwenden. Sie war schön, hatte eine tadellose Figur. Mit der Maske wirkte sie erotisierend, unnahbar, und genau das war es, was ihn erregte. Aber es steigerte auch seine Angst.

      „Wer sind Sie und was wollen Sie?“

      „Was ich will? Schau hin!“ Sie deutete mit dem Kopf auf den Fernseher.

      Er schaute auf den Bildschirm, auf dem sich die Zahl 1983 eingebrannt hatte.

      „Was sagt dir diese Zahl?“ Sie streichelte sein Gesicht. „Komm, sag es mir!“

      Die Handschuhe, sie waren aus schwarzem Samt, fühlten sich weich an. Sie küsste ihn auf die Wange, streichelte seinen Oberkörper und leckte kurz mit ihrer Zunge über seine rechte Brustwarze.

      Sein Körper reagierte, seine Erregung steigerte sich, aber welcher Mann wäre da kalt geblieben?

      „Warum antwortest du mir nicht? Die Zahl sagt dir doch etwas, oder?“

      Er nickte. „Was wollen Sie? Wer sind Sie?“

      „Ich bin eine, die nicht schlafen kann, die nachts aufwacht, weil sie schlecht träumt. Und weißt du auch warum? Weil du und deine Kumpane 1983 etwas getan haben, was mich fast in den Wahnsinn getrieben hat, und nicht nur mich. Ihr habt euch damals sicher gefühlt in dem Unrechtsstaat DDR. Es machte euch nichts aus, ein weiteres Unrecht zu begehen, nicht wahr?“

      Das stimmte. Niemand hatte damals geglaubt, die DDR würde es mal nicht mehr geben, schon gar nicht in naher Zukunft.

      Sein Blick glitt wieder zum Fernseher. Ihm wurde schlecht. Er würgte und konnte sich kaum beherrschen sich nicht zu erbrechen. Der Film war nun nicht