Andy Glandt

Das Gedicht der Toten


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Sie wurden auf dem Boden vor der Leiche entdeckt.

      Und heute ist die Polizei mit der zweiten Fundsache an die Öffentlichkeit gegangen. Auf dem Fernseher des Opfers hatte ein Zettel mit sich reimenden Zeilen gelegen. Man wusste nicht, ob der Zettel dem Toten gehörte oder ob der Täter ihn dort hinterlegte. Die Bevölkerung wurde um Mithilfe gebeten. Wer diese Zeilen kannte oder etwas über deren Herkunft wusste, sollte sich melden.

      Und diese Zeilen starrte Frank Cobbler nun schon eine geschlagene Viertelstunde an. Er las sie wieder und wieder. Nichts schien verändert. Genauso musste die erste Strophe des Gedichts lauten, ein Gedicht, das ihm mit etwa zehn Jahren eingefallen war. Es war sein erster Versuch, ein längeres Gedicht zu schreiben.

      Schon seitdem er fünf war, reimte er. Ihm fiel auf alles etwas ein. Und seine Großmutter, bei der er aufwuchs, hatte all seine Reime aufgeschrieben. Er wusste nicht, ob sie damals schon sein schriftstellerisches Potential erkannte oder ob sie die Sprüche als Erinnerung für später aufbewahrte.

      Als er dann schreiben konnte, notierte er seine Reime, kleinen Gedichte und hin und wieder auch eine kurze Geschichte selbst. Schreiben machte ihm Spaß. Er konnte sich noch an den Tag erinnern, als ihm dieses Gedicht einfiel. Er war wütend auf seine Großmutter gewesen. Sie hatte ihm Stubenarrest verordnet, weil er mehrere Male nicht pünktlich nach Haus gekommen war.

      Er stand auf und ging zum Schrank, in dem er all seine Entwürfe aufbewahrte, jedenfalls alle die, die vor dem Computerzeitalter entstanden sind. Niemals schmiss er etwas weg, auch wenn er es noch so schlecht fand. Er könnte es ja irgendwann mal verbessern.

      Nun wollte er Gewissheit haben.

      Er holte einen Riesenstapel loser Blätter hervor und legte ihn verkehrt herum auf den Tisch. So konnte er von unten mit der Suche beginnen. Ein Blatt nach dem andern schaute er sich an. Bei manchen blieb er eine Weile hängen, bei einigen schmunzelte er über den Quatsch, den er damals verfasst hatte und an andere konnte er sich gar nicht mehr erinnern.

      Und dann lag es vor ihm. ‚Das Meer und der Mensch’. Ja, so hatte er es damals genannt. Er ging zum Computer und verglich die erste Strophe mit den Zeilen, die in der Wohnung des Toten gefunden wurden. Alles stimmte. Kein einziges Wort war verändert worden. Wie kam diese Strophe in die Wohnung eines toten Arztes in Frankfurt? Das Gedicht wurde nie veröffentlicht. Er war sich nicht einmal sicher, ob er es damals irgendjemandem gezeigt hatte. Höchstens Silke, dem Schwarm seiner Kindheit. Nein, wohl eher nicht. Er hätte bestimmt Angst gehabt, sich vor ihr zu blamieren.

      Ratlos schaute er auf den Monitor. Was sollte er tun? Sollte er sich melden? Dann würde man ihn verdächtigen. Er hatte das Gedicht geschrieben und es war nie in der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Eigentlich konnte keiner außer ihm das Gedicht kennen. Und doch war es so. Das Gedicht musste natürlich gar nichts mit dem Mord zu tun haben. Aber wie gelangte eine Strophe davon in die Wohnung eines Frankfurter Arztes?

      Er entschied sich, erst einmal nichts zu unternehmen und etwas mehr über den Toten in Erfahrung zu bringen.

       Stralsund

      Das heiße Wasser strömte über ihren Körper und ließ den seelischen Schmerz ein wenig verblassen. Es tat gut, einfach nur dazustehen und sich dem prickelnden Nass hinzugeben.

      Ihr heutiger Tag als Hauptkommissarin der Mordkommission Stralsund war nicht besonders aufregend gewesen. Eine Anfrage der Kollegen in Frankfurt am Main hatte sie nach Putgarten geführt. Dort war Gerald Arnold, der vor kurzem tot aufgefundene Arzt, aufgewachsen. Sie hatte mit einigen ehemaligen Nachbarn gesprochen, die ihn als unauffälligen Jungen beschrieben. In den Siebzigern war er dann selten zu Haus gewesen, da er in Rostock Medizin studierte. Danach bekam er in Bergen eine Anstellung als Urologe. Er wohnte im Haus seiner Eltern und pflegte seine kranke Mutter. Nach der Wende und dem Tod seiner Mutter ging er erst nach Mainz und dann nach Frankfurt. Niemand konnte sich ein Motiv für die Tat vorstellen.

      Als sie beim Rückruf dem Frankfurter Kollegen Bericht erstattete, erfuhr sie von ihm, dass Dr. Arnold, laut seinen Kollegen in der Klinik, ein Einzelgänger war. Nur sehr selten hat er sich an betrieblichen Feiern beteiligt und auch keine außerdienstlichen Beziehungen zu Kollegen gepflegt. Die einzige Abwechslung von seinem Job war das einmal wöchentliche Training in einem Tennisclub.

      Einmal soll er einer Kollegin etwas näher gekommen sein. Als er aber erfuhr, dass sie einen achtjährigen Jungen hat, wollte er nichts mehr von ihr wissen. Laut Aussagen der Frau hatte er behauptet, schlechte Erfahrungen mit Kindern gemacht zu haben.

      Der Stress, der heute auf Arbeit ausblieb, ereilte Cordula Winter, als sie kurz vor halb acht nach Haus kam. Melissa, ihre neunzehnjährige Tochter, machte sich gerade fertig um ihren Job anzutreten, einen Job, den ihre Mutter ganz und gar nicht befürwortete.

      „Na, bietest du deinen Körper wieder feil?“

      „Keine Diskussion, Mutter! Ich häng mich nicht in deinen Job rein und du nicht in meinen.“

      „Das nennst du Job? Auf dem Tisch zu tanzen, deine Kleider abzuwerfen und dich von geilen Typen betatschen zu lassen? Und ich denke, dabei bleibt es nicht.“

      Sie betrachtete Melissa, die ihre Mutter trotzig anschaute. Die Lippen zu rot, die Lidschatten zu schwarz, der Rock zu kurz, das T-Shirt zu knapp und mit den Schuhen stolzierte sie wie ein Storch.

      „Kann es sein, dass du neidisch bist?“

      „Neidisch, auf so einen Job?“

      „Nein, neidisch darauf, dass ich etwas tue, was du schon lange nicht mehr getan hast. Du hattest doch, seitdem Vati ausgezogen ist, oder sollte ich besser sagen, seitdem du ihn rausgeekelt hast, nie wieder etwas mit einem Mann. Oder liege ich da so falsch? Das ist nun fast vier Jahre her.“

      „Melissa!“, versuchte Cordula Winter ihre Tochter zu stoppen. „Das geht dich gar nichts an!“

      „Doch. Das geht mich etwas an. Du bist unausgeglichen und ich muss es ausbaden. Lass dich mal wieder richtig durchficken.“

      „Schluss jetzt! Das geht zu weit. Wir leben hier zusammen in einer Wohnung, die übrigens ich allein bezahle, und da erbitte ich mir etwas Respekt.“

      „Weil du dieses Thema gerade ansprichst. Ich verdiene genug und werde mir eine eigene Wohnung suchen.“

      „Ach!“ Cordula reagierte gereizt. „Ich nehme an, du brauchst diese Wohnung, um eine Bleibe zu haben, zu der du mit deinen Kerlen gehen kannst, um, wie du es sagst, dich durchficken zu lassen.“

      „Ja, natürlich, nur dafür brauche ich sie. Dir würde niemals in den Sinn kommen, dass du es bist, die mich zum Auszug hier zwingt, du, mit deinem ewigen Genöle. Du ekelst mich genauso raus, wie du es mit Vati getan hast.“

      „Hey, dein Vater hat mich betrogen.“

      „Ja, und das nehme ich ihm nicht einmal übel. Denn seine Frau war mit ihrem Job verheiratet, die abends spät nach Haus kam, früh beizeiten ging und die ihren Mann vernachlässigte, in jeder Hinsicht, nicht nur sexuell.“

      „Das stimmt nicht“, versuchte sich Cordula zu verteidigen.

      „Nein, natürlich nicht. Red dir ruhig immer alles schön. Nur keine Gewissensbisse.“ Sie nahm ihre Handtasche und verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung.

      Als sie nun unter der Dusche stand und diesen Abend noch mal Revue passieren ließ, musste sie zugeben, dass Melissa Recht hatte. Sie und Jürgen hatten kaum noch miteinander gesprochen. Und das lag nicht nur an der Mordserie, die sie damals aufzuklären hatte, es war vor allem das erkaltete Verhältnis zu ihrem Mann. Es war keine Liebe mehr, nicht einmal mehr Zuneigung, die sie für ihn empfand und sie war im Nachhinein richtig erleichtert gewesen, als sie zufällig mitbekam, dass er sich mit einer Anderen traf. Was sie anfangs allerdings am meisten schmerzte, war die Tatsache, dass diese Andere nicht etwa eine Jüngere war. Das hätte sie verstanden. Nein, sie schien sogar älter zu sein und Cordula fand sie auch nicht besonders hübsch. Aber sie wusste ja selbst, dass das Äußere nicht immer zählt.

      Sie