Andy Glandt

Das Gedicht der Toten


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hätte es ihr erzählt?

      Bei der Befragung eines Barbesitzers, bei dem einer der Ermordeten gearbeitet hatte, sah sie ihn mit dieser anderen Frau an einem der Tische sitzen. Sie hatte einige Minuten dorthin gestarrt, jedenfalls kam es ihr so lange vor. Die beiden schienen sie aber nicht zu bemerken. Erst dachte Cordula, es sei vielleicht eine Kollegin oder eine Kundin, die er als Architekt betreute, doch als er dann ihre Hand nahm und diese zu seinem Mund führte um sie zu küssen, bekam sie weiche Knie. Eine Szene in der Bar wollte sie ihm allerdings nicht machen. Sie war immerhin im Dienst.

      Als Cordula Jürgen abends damit konfrontierte, gab er ohne Zögern zu, sich schon ein paar Mal mit dieser Frau getroffen zu haben, aber immer nur in einer Bar oder sie waren spazieren.

      „Es geht mir ums Reden, Cordula“, hatte er ihr erklärt. „Ich habe nicht mit ihr geschlafen.“

      „Aber das wird ja nicht mehr lange dauern“, hatte sie gekontert. „Den Anfang dazu habe ich heute gesehen oder ist es normal, einer Frau die Hand zu küssen, mit der du nur reden willst?“

      Darauf war ihm keine Antwort eingefallen, was sie als Zustimmung ihrer Äußerung deutete.

      Sie wusste heute nicht mehr, wie lange sie schweigend so dastanden, aber irgendwann brach sie die Stille: „Ich möchte, dass du gehst.“ Dann war sie aus der Wohnung geflüchtet, war weinend durch die Straßen gelaufen und als sie nach wer weiß wie vielen Stunden wieder nach Haus kam, war Jürgen fort. Seit zweieinhalb Jahren sind sie nun geschieden.

      Für Melissa war es ein Schock gewesen, da sie sehr an ihrem Vater hing und Cordula denkt nun, dass sie ihre Mutter dafür bestrafen will, ihren Vater rausgeekelt zu haben, indem sie sich als Tabledancer verdingt und ihr Geld mit Männern im Bett verdient.

      Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, stellte das Wasser ab und stieg aus der Dusche. Beim Abtrocknen betrachtete sie sich im mannshohen Spiegel an der Badinnentür und fand ihre Figur für 43 noch recht passabel. Okay, sie war leicht untersetzt und zu klein um als Model durchzugehen, aber sonst… Brauchte sie wirklich mal wieder einen Mann? Melissa hatte Recht, sie hatte seit Jürgen nie wieder mit einem Mann geschlafen und davor war ja auch mit ihm so gut wie nichts mehr passiert. Ihr fehlte aber auch das Verlangen danach. In der ganzen Zeit hatte sie sich höchstens fünf oder sechsmal selbst befriedigt, aber dabei nie einen Gedanken an einen Mann verschwendet. Ihr fiel auch kein Mann ein, mit dem sie sich Sex vorstellen könnte. War sie prüde geworden?

      Sie trocknete sich ab, zog sich ihr Nachthemd und den Morgenmantel über und ging in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen.

       Samstag, 23. Mai 2009 – Vitt, Insel Rügen

      Kurz nachdem Auffinden des toten Dr. Gerald Arnold wurde die Sonderkommission ‚Arzt’ gegründet, die aber noch keine Erfolge vorweisen konnte. Es gab keinen Verdächtigen und das Motiv war weiterhin unklar. Auch mit den sich reimenden Zeilen war man nicht weitergekommen. Niemand schien sie zu kennen.

      Allerdings hatte man ein Foto des Ermordeten veröffentlicht und nun wusste Kerstin mit Sicherheit, dass es sich um ihren Gerald Arnold handelte, den Gerald Arnold aus der Gruppe. Diese Erkenntnis trug nicht im Geringsten dazu bei, ruhiger zu werden.

      Von einem Lehrerkollegen erfuhr sie, dass eine Polizeibeamtin von der Mordkommission Stralsund in Putgarten gewesen sei, um einige Nachforschungen zu Arnolds Vergangenheit anzustellen, aber hierher waren sie nicht gekommen. Sie sahen also keine Verbindung Gerald Arnolds zu Vitt.

      Sie überlegte, was jetzt zu tun sei. Sollte der Mord an Gerald etwas mit der Sache von damals zu tun haben, dann wird einer von ihnen der oder die Nächste sein. Wer, das war egal. Sie könnte zur Polizei gehen und sich selbst anzeigen. Sie würde in den Knast kommen und wäre somit vor dem Zugriff des Mörders in Sicherheit. Aber was ist, wenn der Mord gar nichts mit der Sache zu tun hat? Dann wäre ihre Selbstanzeige sinnlos.

      Sie musste sich mit Marion und Bernd in Verbindung setzen. Dann könnten sie gemeinsam entscheiden, was sie unternehmen oder nicht unternehmen sollten.

      Sie setzte sich an den PC, rief das Telefonbuch auf und hoffte Bernds Nummer darin zu finden. Sie hatte mal gehört, er soll in Lübeck wohnen. Das war aber auch schon ein paar Jahre her. Von Marion kannte sie nur den Mädchennamen. Falls sie verheiratet ist, wird sie sie nicht so leicht finden.

      Bingo. Es gab nur einen Bernd Retzlaff in Lübeck und Kerstin hoffte, er sei der richtige.

      Sie griff zum Hörer und wählte die Nummer.

       Sonntag, 24. Mai 2009 - Weymouth, England

      Lisa schaute sich auf dem Laptopmonitor die vier Fotos an, Bernd Retzlaff, Marion Kaminski, Kerstin Strübe und Gerald Arnold. Die beiden Frauen hatte sie auf Facebook entdeckt und das Foto von Bernd auf einer Partnervermittlungsseite. Um sein Bild sehen zu können, war Lisa dort sogar Mitglied geworden. Und von Gerald gab es zurzeit ja genügend Fotos im Netz. Vier Fotos – vier Scheusale.

      Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit, zurück ins Jahr 1983. Sie war sieben Jahre alt und kapierte damals nicht, was geschah. Sie lag auf einer Matratze im Obergeschoss dieses Hauses, dieser Bauruine, die nie fertig gestellt wurde. Aber es war der ideale Platz zum Spielen. Zwei-dreimal pro Woche traf sie sich dort mit Gesine, ihrer Freundin. Sie tauschten Heimlichkeiten aus oder träumten einfach vor sich hin. Dazu hatten sie auch die alte Matratze dort hinauf geschafft, die sie auf einer Müllhalde entdeckten. Dort fanden sie auch die Leiter, die sie erst auf die Idee brachte, dieses Haus als ihren geheimen Treffpunkt zu nutzen. Obwohl ein paar Sprossen fehlten, reichte sie aus, um in den oberen Stock zu gelangen.

      An diesem Tag erschien Gesine nicht. Dafür sah sie zwei Frauen, die auf das Haus zukamen. Sie erkannte sie sofort. Dort kannte jeder jeden. Lisa dachte zuerst, es wären die Eigentümer und sie wollten am Haus weiterbauen. Sie hörte, wie sie klopften und eine Tür sich knarrend öffnete. Die einzige Tür, die es in dem unfertigen Haus gab, war unten und führte wahrscheinlich in einen Keller. Dann hörte sie eine ganze Weile nichts. Gerade als sie sich entschloss, ihren Platz zu verlassen um zu Gesine nach Haus zu gehen, fingen die Schreie an. Erst klangen sie wie ein Winseln, dann wurden sie immer lauter. Lisa konnte nicht erkennen, wer dort schrie und wie viele es waren, aber sie meinte mehrere Stimmen zu unterscheiden. Als die Schreie immer lauter wurden, hielt sie sich die Ohren zu. Was passierte da unten? Sie konnte es sich nicht erklären. Wer schrie dort? Sie fürchtete sich. Was würde geschehen, wenn man sie hier oben entdeckte? Sie musste so schnell wie möglich weg von hier.

      Abrupt hörten die Schreie auf. Einen Augenblick lang war alles still, aber dann drangen aufgebrachte Stimmen zu ihr herauf. Sie stritten. Eine Frau kreischte. Ein Mann brüllte. Dann schrien mehrere Personen durcheinander und plötzlich war alles wieder ganz still. Erst da bemerkte Lisa, wie sie am ganzen Körper zitterte. Sie hatte Angst sich zu bewegen. Sie wollte nicht entdeckt werden.

      Sie hörte das Knarren der Tür. Obwohl sie von unten aus nicht gesehen werden konnte, kauerte sie sich in die hinterste Ecke und hoffte, dass niemand die Leiter entdeckte und hier oben nachschaute. Aber dafür hatten sie zum Glück keine Augen. Lisa hörte sich entfernende Schritte. Vorsichtig hob sie den Kopf und sah nach draußen. Ja, sie gingen, aber diesmal waren es nicht nur die beiden Frauen. Zwei Männer begleiteten sie, Männer, die sie ebenfalls kannte. Die mussten schon da gewesen sein, bevor sie selbst hier ankam. Erst viel später, als sie anfing zu ahnen, was da unten vorgefallen sein könnte, quälte sie der Gedanke, was passiert wäre, hätte man sie gefunden. Sie wollte es sich nicht vorstellen.

      Sie wartete noch einige Zeit, überlegte, ob noch mehr Leute im Keller sein könnten, aber sie glaubte gehört zu haben, wie die Tür abgeschlossen wurde. Erst als sie sich sicher wähnte, niemand könne sie sehen, kletterte sie hinunter und schlich davon.

      Sie wusste nicht mehr, wie sie nach Haus gekommen war, nur, dass sie sich in ihr Zimmer verkroch, immer noch zitternd. Sie legte sich ins Bett und sprach mit niemandem, weder mit ihrer Mutter, noch mit der Ärztin, die diese hatte kommen lassen. Diese diagnostizierte aufkommendes Fieber und befreite Lisa ein paar