Wilma Burk

Du hast es mir versprochen!


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sich verlassen.

      Schaffte es die Mutter nicht oder wollte sie Vera nicht trösten? Sie ging zusehends ungeduldiger mit ihr um. „Was soll das? Was trauerst du dem nach? An so einem Vater hast du nichts verloren. Niemand hat ihn gezwungen zu gehen. Außerdem hast du immer noch mich.“

      Nein, Vera fand keinen Trost bei der Mutter. Sie suchte ihn auch nicht bei ihr. Sie ging ihr lieber aus dem Weg. Zu Onkel Achim schlich sie sich, bei ihm suchte sie die Anlehnung, die sie mit dem Vater verloren hatte.

      Ja, der Vater war einfach gegangen - einfach so, hatte sie im Stich gelassen, sein Wort nicht gehalten. Nichts anderes konnte Vera mehr denken. Ganz langsam wandelten sich Zorn und Enttäuschung in Hass auf den wortbrüchigen Vater und verdrängte ihre Trauer. Sie war zutiefst verletzt.

      Als er kurz darauf noch einmal kam, rannte Vera weg und weigerte sich, mit ihm zu reden. „Du bist ein Lügner!“, schleuderte sie ihm entgegen. Sie wollte ihn nicht sehen und versteckte sich. Doch sie litt. All ihr Zorn auf den Vater war nur Ausdruck ihrer Hilflosigkeit einem Geschehen gegenüber, das sie nicht verstand. Und die Mutter, selbst verbittert, tat nichts dazu, es ihr zu erklären.

      Schlimm war die Zeit für Vera, als die Scheidung der Eltern lief. Fast über Nacht durchzogen einzelne weiße Fäden das dunkle Haar der Mutter. Mit verkniffenem Mund saß sie oft gedankenverloren da, so dass Vera nicht wagte, sie anzusprechen. Liebte die Mutter sie überhaupt? Sie hatte doch nur noch die Mutter. Was sollte sie tun? Schuldgefühle machten sich in ihr breit. War sie zu innig verbunden mit dem Vater gewesen und hatte damit die Mutter gekränkt? War der Vater das überhaupt wert gewesen? Angst, auch noch die Mutter zu verlieren, erfüllte sie mehr und mehr. Alles tat sie, um ihre Aufmerksamkeit zu erreichen. Wenn die Mutter bat, ihr etwas zu holen, rannte sie sofort los und holte es. Was Vera ihr auch versprach, sie hielt es. Nein, die Liebe der Mutter wollte sie nicht riskieren, nachdem sie die Liebe des Vaters verloren hatte. So glaubte sie. Sie bemühte sich, ein braves und folgsames Mädchen zu sein. Nur die Mutter so zu umarmen wie den Vater früher, das konnte sie nicht.

      Wenn sie die Sehnsucht nach liebevoller Beachtung überkam, lief sie zu Onkel Achim. Auch er konnte sie zwar nicht umarmen, wie der Vater es getan hatte, aber ein Blick, ein Bonbon, ein Streicheln übers Haar, war schon viel für Vera geworden. Sie wartete nicht mehr darauf, bis Marita mitkam. Sie mochte es sogar fast lieber, allein zu ihm zu gehen, seine Freundlichkeit nicht teilen zu müssen. Es tat ihr gut, den Laden zu betreten, wenn dass melodische Klingeling der Türglocke erklang und Onkel Achim leicht gebeugt hinter einem Vorhang hervor in den Laden schlurfte. Ihr ganz allein gehörte es dann, wenn er ihr mit seinen freundlichen hellen Augen über den Brillenrand zuzwinkerte und sie sich von seiner Zuneigung umfangen fühlte. Doch den Vater ersetzen konnte er ihr nicht.

      *

      Als der Tag der Scheidung der Eltern gekommen war, erklärte ihr die Mutter: „Jetzt gehört er nicht mehr zu uns. Aber er will dich einmal im Monat zu sich holen, das hat er beim Gericht durchsetzen können.“

      „Ich will nicht!“, antwortete Vera.

      Und als er kam, um sie zu holen, weigerte sie sich, mit ihm zu gehen. Auch sein trauriger Blick konnte sie nicht umstimmen. Die Mutter tat nichts dazu, sie zu überreden. Nein, sie unterstützte ihre Ablehnung sogar noch. Für sie schien es dem Vater gegenüber ein Triumph zu sein, dass seine geliebte Tochter nichts mehr von ihm wissen wollte.

      „Da siehst du es, wie es ist, wenn jemand nicht hält, was er verspricht“, stachelte sie Vera auf. „Doch dein Vater war ja schon immer so leicht mit dem Wort. Gewissenlos ist das, einfach gewissenlos! Versprich mir, dass du stets daran denkst, und nicht so wirst wie er.“

      Nein, so gewissenlos wollte Vera nicht werden. So nahm sie es sehr ernst, wenn sie etwas versprach und war es auch nur nebensächlich. „Auf Vera kann man sich verlassen“, sagte man ihr in der Schule und unter Freunden bald nach. Das wollte sie, dass man so über sie dachte. Nichts hasste sie mehr, als Menschen, die mühelos Versprechen geben und sie dann vergessen können. Wenn einer ja sagt, dann sollte er auch dazu stehen, egal was käme, davon war sie überzeugt. Nichts kränkte sie mehr, als wenn man ihr vorwarf, sie hätte auch nur in einer Belanglosigkeit ihr Wort nicht gehalten.

      Marita dagegen, ihre Freundin, lachte darüber und sagte: „Du nimmst die Dinge zu ernst. Nicht alles muss man halten, was nur schnell versprochen wird.“ Vera aber blieb dabei und wurde böse, wenn ihr gegenüber auch nur einer ein leicht gegebenes Versprechen vergaß. Marita bekam das manchmal zu spüren, denn sie war lustig, lebte leicht, nahm nichts schwer, genau wie der Vater von Vera. Das war es wohl auch, was Vera zu ihr hinzog, was die Freundschaft bestehen ließ, trotz so mancher Auseinandersetzung.

      2. Kapitel

      Als die beiden Mädchen alt genug waren, so dass Jungen sich nach ihnen umdrehten, verstand Marita, die Zierliche mit den schwarzen Haaren, bald beim Gehen aufreizend mit den Hüften zu wippen. Vera dagegen schwärmte für einen Lehrer, der wohl ein wenig ihrem Vater glich. Sie hatte keine Augen für so einen Jungen in ihrem Alter.

      Marita lachte darüber. „Das ist doch ein alter Knacker, Vera. Für den bist du nichts als ein dummes Kind.“

      Aber das änderte sich auch nicht, als die Schulzeit zu Ende ging. Längst hatte Marita ihre erste Liebe gefunden und einen Freund. Doch für Vera waren das grüne Jungs, die ihr schöne Augen machten. Sie schwärmte weiter für einen unerreichbaren Lehrer. Die anderen waren für sie nur Kumpel, mit denen man herumtollen konnte. Wollte sich ihr einer anders nähern, bekam er was auf die Finger.

      Das jedoch änderte sich, als in ihrem Haus aus einer Wohnung, oben unterm Dach, ein alter, kauziger Mann aus- und dafür ein junger Mann einzog. Flott kam Bernd Reuter, der neue Mieter, daher. Schlank, groß und auffällig war er. Frauenaugen folgten ihm. Er war sich dessen offenbar bewusst, wenn er mit seinen braunen Augen unter dunklen Locken um sich sah. Er war ein Student, der es mit dem Examen nicht so eilig hatte. Es war ihm anzumerken, dass er gerne lebte und keinem Vergnügen aus dem Weg ging.

      Vera, noch nicht ganz siebzehn, begegnete ihm zum ersten Mal auf der Treppe. Sie wollte ihm ausweichen, er auch, so kamen sie nicht aneinander vorbei. Er lachte amüsiert, und sie war verlegen. Sie spürte, wie er sie neugierig musterte und konnte doch ihren Blick nicht abwenden. Unruhe stieg in ihr auf, die sie noch nicht verstand.

      Als sie danach Marita begegnete, fragte sie schwärmerisch: „Hast du schon einmal so dunkelbraune Augen gesehen, wie der neue Mieter sie hat?“

      „Sag nur, du hast ihn dir so genau angeschaut“, wunderte sich Marita und stutzte.

      Doch Vera schwärmte weiter: „Du musst mal sehen, wie er läuft, der weiß, was er will. Das ist kein kleiner Junge mehr.“

      „Du hast ihm doch nicht etwa zu tief in die Augen geblickt? Er ist bestimmt schon weit über zwanzig. Der ist viel zu alt für uns!“, meinte Marita.

      Vera aber fand ihn nicht zu alt, sie war verliebt, zum ersten Mal verliebt und nicht in so einen grünen Jungen, mit denen Marita sich abgab. Sie hatte nur Augen für Bernd Reuter. Jede Gelegenheit suchte sie, um ihm zu begegnen. Bemerkte er es? Wohl nicht – oder tat er nur so?

      Erst an dem Tag, als Vera erfahren hatte, dass ihr Vater gestorben war, kam sie mit ihm ins Gespräch. Der Vater war nur fünfundfünfzig Jahre alt geworden.

      „Das hat er nun davon, dass er sich mit so einem jungen Ding eingelassen hat! Viel zu anstrengend ist so ein Weib.“ Das war der ganze Kommentar der Mutter dazu, als sie es Vera mitteilte.

      Vera sagte nichts. Nun war der Vater wirklich für immer gegangen, nur das ging ihr durch den Sinn. Sie lief über den Hof zum Schuppen und verkroch sich in der Ecke neben den Kaninchenställen, wie früher als Kind. Sie weinte um eine letzte verlorene Hoffnung. Nun konnte er nichts mehr gutmachen, sie ihren Zorn nie mehr verlieren. Selbst jetzt, da sie längst begriffen hatte, dass die Eltern zu verschieden gewesen waren, um gut miteinander leben zu können, schmerzte es sie, dass er damals so einfach weggegangen war.

      Leise wurde die Tür des Schuppens geöffnet. Neugierig schaute Bernd Reuter herein.