Wilma Burk

Du hast es mir versprochen!


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Blatt Sauerampfer auf und schob es dem einen durch das Stallgitter zu. „Da, Mümmelmann, das muss nicht verkommen“, murmelte er. Die anderen Kaninchen drängten sich dazu, sie wollten auch etwas abbekommen. Er sah sich suchend nach weiteren grünen Blättern um. Dabei entdeckte er Vera. „Oh, ich habe Sie nicht gesehen. Sind das Ihre Kaninchen?“

      Vera schüttelte den Kopf, schnäuzte sich und wischte sich verschämt über die Augen. Das Blut stieg ihr zu Kopf. Warum kam er ausgerechnet jetzt? Sie musste furchtbar aussehen, so verheult.

      „Sie haben geweint?“

      „Ach, was!“ Das klang sicher ablehnender, als sie es wollte.

      „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, bot er sich an.

      „Nein!“

      „Wirklich nicht?“

      Warum ging er nicht? Vera fühlte sich unbehaglich und zugleich seltsam erregt.

      Er blieb und musterte sie mitleidig. Oder neugierig?

      Am liebsten wäre sie aufgestanden und weggelaufen. Nur stand er dazu im Weg. So blieb sie wie gelähmt sitzen.

      „Wollen Sie sich nicht helfen lassen? Warum versuchen Sie es nicht?“ Er war hartnäckig, ließ sich durch ihr ablehnendes Verhalten nicht wegschicken und setzte sich sogar wie selbstverständlich dicht neben sie an die Erde. Sie zog sich in ihre Ecke zurück, so weit sie konnte, und schlang die Arme um ihre Knie. Doch ihr Herz pochte, wie sie es noch nie verspürt hatte. Als er ihr väterlich sacht eine Strähne ihres langen Haares aus dem Gesicht strich, so, wie es vielleicht ihr Vater getan hätte, hielt sie es kaum aus, sie schniefte und schluchzte heftig auf.

      „Manchmal hilft es, wenn man über das spricht, was Kummer bereitet. Ich kann gut zuhören“, redete er auf sie ein.

      Nur einen Moment noch dachte Vera: ‚Wie kommt dieser Fremde dazu?’ Dann überwog der Wunsch in ihr, ihm vertraut zu sein. Sein überlegenes Lächeln, seine fast väterliche Sicherheit, machten es ihr leicht, eine Schwelle der Fremdheit zu überschreiten. Stockend begann sie ihm davon zu erzählen, dass ihr Vater gestorben war.

      Er sagte nichts, sah sie nicht einmal an, saß nur da und hörte ihr aufmerksam zu.

      So redete sie weiter. Nur, wie sollte sie ihm sagen, dass sie um einen Vater weinte, den sie so sehr hasste, weil sie ihn einmal über alle Maßen geliebt hatte. Wie sollte er das verstehen, was sie selbst nicht verstand? Sie wollte es nicht, und doch brach es aus ihr heraus. Alles erzählte sie ihm, ihre ganze Not, diesem ihr noch Fremden, der sich mit wenigen Worten und Gesten in ihr Vertrauen geschlichen hatte.

      Schweigend hörte er alles an, unterbrach sie nicht. All ihren verworrenen Gedankengängen lauschte er. Zuletzt nahm er ihre Hand und drückte sie mitfühlend. „Ich verstehe! Eine Scheidung der Eltern ist für ein Kind immer schwer. Sie hinterlässt Ratlosigkeit und fast unheilbare Verletzungen.“

      Diese mitleidsvolle Geste ließ sie erneut in Tränen ausbrechen.

      Er rückte näher an sie heran, legte tröstend seinen Arm um sie und strich ihr über das Haar, genau wie der Vater es einst getan hatte. Wie hatte sie sich danach gesehnt, einmal wieder so in den Arm genommen zu werden, und er tat es. Vera wehrte sich nicht; sie ließ es geschehen. Sie gab sich ganz diesem Gefühl hin, ihm nah zu sein. Doch es verwirrte sie zugleich.

      Als sie sich beruhigt hatte, richtete sie sich auf. Er zog seinen Arm sofort zurück. Scheu blickte sie im Dämmerlicht des Schuppens zu ihm.

      „Es ist trotzdem schwer, ich weiß. Es ist die Endgültigkeit, die so ein Tod mit sich bringt, wenn jede Hoffnung auf Versöhnung damit begraben werden muss. Das ist das Schlimmste daran“, sagte er, als hätte sie danach gefragt.

      Ja, genau das war es, was sie empfand.

      Es war ihr unheimlich. Es war, als würden sie beide sich nicht nur mit Worten verständigen können, sondern auch mit Blicken und Gedanken. Es überkam sie ein ihr bisher unbekannter Zwang, sich noch näher an ihn zu drängen, ihn zu spüren, seinen Körper zu berühren, seine Nähe zu atmen. Das machte sie unsicher und ließ sie wie gehetzt aufspringen. „Danke, es geht schon!“, rief sie und strebte gegen ihren eigenen Willen von ihm fort.

      Er folgte ihr. Sie gingen zusammen über den Hof. Dann hatte es Vera eilig, in die Wohnung zu kommen.

      „Wo warst du?“, fragte die Mutter und musterte sie. „Hast du geweint? Etwa um deinen Vater?“

      „Und wenn?“

      „Du glühst ja. Was ist los? Hast du vergessen, was er uns angetan hat, wie wortbrüchig er geworden ist? Ob er nun lebt oder tot ist, du hattest schon lange keinen Vater mehr.“

      „Wie kannst du so reden?“

      „Sag bloß, du hast dir noch Hoffnungen gemacht, dass er eines Tages zurückkommt?“ Die Mutter schien verärgert.

      „Nein, natürlich nicht!“, antwortete Vera gereizt, ging in ihr Zimmer und warf die Tür zu. Aber stimmte das überhaupt? Hatte sie nicht doch darauf gehofft, trotz ihres Zorns? Vera wusste es nicht.

      *

      Eine seltsame Zeit folgte. Einerseits wollte Vera Bernd Reuter am liebsten aus dem Weg gehen, andererseits fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Sie wurde immer erfinderischer, um ihm zu begegnen, auch wenn sie sich wie gelähmt fühlte, sobald sie ihn sah. Zuerst fragte er noch fürsorglich, wie es ihr gehe, ob sie den Schmerz um den Vater überwunden habe. Aber je öfter sie sich begegneten, umso eigenartiger wurde sein Blick, war es Neugierde, war es Interesse? Vera glaubte bald, so konnte er sie nur ansehen, weil er sich in sie verliebt hatte.

      „Dich hat es aber erwischt!“, stellte Marita fest. „Was versprichst du dir von ihm?“

      Alles versprach sich Vera von ihm, Geborgenheit, Zärtlichkeit und Liebe, die ewig hält. All das würden sie sich versprechen und halten, wenn ..., ja, wenn ...

      Sie war ganz aufgeregt, als sie glaubte, auch er suche ihre Nähe.

      *

      Sie machte inzwischen eine kaufmännische Lehre in einem Mode-Betrieb. Wenn sie dann von dort nach Feierabend nach Hause gehen wollte, tauchte er oft wie zufällig auf. Veras Herz tat einen Satz vor Freude. Nein, sie hatte nichts dagegen, den Heimweg gemeinsam mit ihm zu gehen. Und sie redeten und redeten, als wäre es nie anders gewesen. Manchmal nahm er dabei ihre Hand. Sie spürte seine Wärme, die ihre Hand umschloss, und sie ließ es geschehen.

      Noch versuchte sie, das vor der Mutter zu verheimlichen. Bald fragte die aber misstrauisch: „Bist du wieder mit diesem Studenten nach Hause gekommen?“ Weiter sagte sie noch nichts.

      Plötzlich hatte Bernd Reuter auch ein Fahrrad und forderte Vera zu Spazierfahrten auf.

      „Sei vorsichtig! Der ist zu alt, um nur noch Händchen zu halten“, mahnte die Mutter.

      „Ja, ja, ich weiß Bescheid! Ich bin bald achtzehn“, wehrte Vera ab.

      „Eben! Rückgängig kannst du nichts mehr machen.“

      „Was meinst du damit?“

      „Das erste Mal gibt es nur einmal für ein junges Mädchen. Das solltest du dir gut überlegen, wann und mit wem es geschehen soll.“

      „Was du dir für Sorgen machst!“ Vera versuchte dem Gespräch auszuweichen. Es war ihr peinlich.

      Das war eigentlich auch nicht die Art ihrer Mutter, so offen darüber zu reden. Wie unbeholfen und unfrei hatte sie versucht, Vera über die Beziehung zwischen Mann und Frau aufzuklären. Dabei hatte Vera es zu dem Zeitpunkt längst gewusst.

      „Ich will dich nur warnen. Er sieht nicht so aus, als würde er lange überlegen, eher, als würde er jede nehmen, die sich ihm anbietet. Entscheiden musst du allein. Ich kann dich nicht festbinden. Es hat sicher auch keinen Zweck, dich von ihm fernhalten zu wollen. Darum versprich mir, dass du dich nicht zu schnell verführen lässt.“

      „Ach, woran du denkst!“, wehrte Vera ungeduldig ab,