sondern neue Garderobe, die sie extra für die Hochzeit gekauft hatten. Die Männer füllten ihre Anzüge wieder aus, verschwanden vor Magerkeit nicht mehr darin wie früher. Auch die Hochzeitstafel zu füllen, wäre jetzt für Mama nicht mehr schwer gewesen wie bei uns damals, als gerade die sowjetische Blockade von West-Berlin begonnen hatte. Doch diesmal musste sie sich nicht darum kümmern. Die Feier fand in einem Raum für Vereinssitzungen oder Familienfeiern in der Kneipe an der Ecke unserer Straße statt. Hier sorgte der Wirt für Speisen und Getränke. Mama rannte nicht zwischen Küche und Hochzeitstafel hin und her, sondern sie saß mit Papa auf einem Ehrenplatz gleich neben Karl-Heinz, dem Bräutigam.
„Was haben sich die Zeiten doch gebessert“, stellte sie zufrieden fest.
„Ja, wenn nur auch die Spannungen um Berlin aufhören würden“, meinte Karl-Heinz.
„Darum werdet ihr euch in Hannover bald nicht mehr kümmern“, vermutete Konrad. Wir wussten von unserer Reise in die Berge her, wie wenig sich die Bundesdeutschen für Berlin interessierten.
„Das sicher nicht!“, wehrte Traudel ab. „Dazu habe ich hier viel zu lange gelebt.“
„Ich sollte dir eigentlich böse sein, dass du uns Traudel so zeitig und so weit weg entführst“, sagte Mama zu Karl-Heinz und gab ihm scherzhaft einen Klaps auf seinen Arm. Es war aber nicht zu übersehen, er hatte längst ihr Herz erobert.
Sahen Konrad und ich damals als Brautpaar auch so glücklich aus wie die beiden, die da nebeneinander auf den bekränzten Stühlen saßen? Ja, man ging noch voller Illusionen in eine Ehe. Ich dachte daran, wie Traudel mich damals vor meiner Hochzeit besorgt gefragt hatte, ob sie jemals eine schöne Braut sein könnte, weil sie rote Haare hatte. Die Sorge hatte ihr wohl Karl-Heinz längst genommen, wenn er sie verliebt „Mein kleiner roter Teufel“ nannte.
Und Traudel war eine hübsche Braut. „Wie eine Prinzessin“, hörte ich jemand sagen, als wir in die Kirche gingen. Ihr kurzer Schleier - wie es gerade modern war - wurde von einem Krönchen aus Myrtenzweigen auf ihrem roten Haar gehalten. In langen Locken fiel es ihr über die Schultern. Dabei leuchteten ihre meergrünen Augen wie unergründliche Bergseen - so drückte es Karl-Heinz in seiner Verliebtheit aus.
Er hielt sie fest, als befürchtete er, sie könne jeden Moment verschwinden wie ein schöner Traum. Beim Laufen zum Altar in der Kirche hatte er Mühe, nicht auf ihren langen, weit schwingenden Rock zu treten, unter dem Traudel - wie jetzt üblich - einen steifen Petticoat trug. Das ließ ihre Taille besonders schlank erscheinen.
Sie waren ein schönes Brautpaar, und es war ein schönes Fest.
Zum Tanz spielte kein Akkordeonspieler mehr auf wie bei uns, sondern hier stand eine Musikbox mit den neuesten Platten und Schlagern.
Es wurde aber noch Walzer getanzt neben all den modernen aufkommenden Tänzen. Da sah ich dann auch Mama und Papa sich beschwingt im Kreise drehen. Dabei bemerkte ich, Mama sah Papa an, als hätte sie sich gerade eben erst in ihn verliebt.
Ich lächelte, schmiegte mich tiefer in Konrads Arm und drehte mich mit ihm. Auch uns überkam ein Gefühl inniger Verbundenheit.
Onkel Oskar, der Onkel aus Hannover von Karl-Heinz, hatte eine besondere Überraschung für das Brautpaar. Plötzlich hupte es laut und vernehmlich vor der Kneipe. Onkel Oskar hatte sein Geschenk geholt. Geschmückt mit einer großen Schleife auf der Motorhaube, stand da ein kleines Auto.
Traudel rannte aufgeregt hinaus und zog Karl-Heinz mit sich. Neugierig folgten die Gäste, neugierig kamen Kinder auf der Straße dazu und blieben Passanten stehen.
„Soll der für uns sein?“, fragte Traudel ungläubig und drückte ihre Hände an die Brust.
„Was dachtest du?“, fragte Onkel Oskar selbstgefällig. „Ein Kfz-Meister in meinem Betrieb, der kein Auto besitzt, wo gibt es denn so was?“ Und er blickte verschmitzt über den Rand seiner silbern eingefassten Brille. Dabei lachte er zufrieden, dass sein kleiner Schmerbauch vergnügt dazu auf und ab hüpfte. Er hatte sich extra einen neuen dunklen Anzug zu der Feier gekauft und eine schwarze Fliege umgebunden. Seine dünnen, mit weißen Fäden durchzogenen dunklen Haare hatte er besonders sorgsam von dem tiefen Scheitel aus gleichmäßig über den Kopf verteilt.
Ich sah wohl Konrads sehnsüchtigen Blick nach dem Auto. Auch Onkel Oskar sah es. „Lassen Sie man, junger Mann“, wollte er ihn trösten, „das dauert nicht mehr lange, dann haben auch Sie ein Auto. Nicht umsonst bauen sie jetzt hier in der Stadt das erste Stück einer Stadtautobahn. Die Zukunft gehört dem Auto. Da führt nichts dran vorbei. Bald geht keiner mehr zu Fuß.“
Ich sah ihn zweifelnd an.
„Bestimmt! Glauben Sie mir, kleine Frau! Ich kann das in meiner Autowerkstatt spüren“, bekräftigte er seine Worte.
Helmut Bruns, Konrads Freund aus Kriegstagen, den wir seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatten, besaß bereits ein eigenes Auto. Wie oft war er mit uns durch die Stadt gefahren, damals, als unsere Freundschaft mit ihm noch bestand, hatte es Konrad nichts ausgemacht. Doch jetzt, da immer häufiger dieser oder jener plötzlich ein Auto vor der Tür stehen hatte, spürte ich, wie gern auch er eins hätte. Zunächst aber war uns das nicht möglich, ohne einen Kredit aufzunehmen – und davor scheute er zurück.
Kaufen auf Kredit, das wurde jetzt üblich. Man hatte Arbeit, man verdiente sein Geld und konnte somit in die Zukunft planen. Die Wirtschaft in West-Berlin entwickelte sich zwar nicht so schnell und so gut wie in der Bundesrepublik - bedingt durch die Insellage der zweigeteilten Stadt innerhalb der DDR -, aber es ging spürbar aufwärts.
Darüber redeten die Alten auch auf Traudels Hochzeit. Vielleicht taten sie sich sogar wichtig mit dem, was sie bereits erreicht hatten. Die Jungen aber tanzten lieber in die Nacht hinein. Eigentlich waren Konrad und ich schon fast ein altes Ehepaar, doch an diesem Tag fühlte ich mich um Jahre zurückversetzt. Ich sah ihn mit den verliebten Augen der ersten Tage, sein schmales Gesicht unter dunklen Haaren, und schmiegte mich beim Tanzen enger an seine schlanke aufrechte Gestalt. Wie gut ihm der dunkle Anzug stand. Ein paar Falten um seine Augen, die ihren warmen Glanz nicht verloren hatten, verrieten, dass er keine zwanzig mehr war. Jetzt mit zweiunddreißig Jahren war er etwas breiter geworden. Aber auch mich ärgerten bereits gewisse kleine, fast unmerkliche Pölsterchen um die Taille. Ein Zeichen der Zeit, dass es allen wieder besser ging. Längst gab es Dicke, man kämpfte mit seinem Gewicht, mit Torte und Sahne. So mancher Hochzeitsgast sagte bei einem Gläschen auch ein „Prost“ zu viel. Damit war man nicht zimperlich, man war fröhlich. Es war viel zu schön, dass es sich nach dem Krieg wieder zu leben lohnte.
Alle verabschiedeten sich gegen Morgen in guter Laune, wenn auch müde. „Wann sehen wir uns wieder?“, wurde gefragt.
„Bei der nächsten Hochzeit“, sagte jemand.
Doch einen hörte ich murmeln: „Vielleicht auch bei der nächsten Beerdigung.“
Ärgerlich wollte ich etwas erwidern. Doch Konrad zog mich zur Seite. „So ist das nun einmal mit Familienfeiern“, sagte er.
Und es stimmte ja. Entfernte Verwandte, wann sah man sie? Zu Hochzeiten oder zu Beerdigungen.
Karl Heinz verabschiedete sich hier schon von seinen Eltern, während das junge Paar mit zu Mama und Papa gingen.
Obgleich Karl-Heinz nach der Feier nicht mehr so ganz sicher auf den Beinen war, ließ er es sich nicht nehmen, sein neues, kleines Auto die paar Meter in der Straße bis vor das Haus von Mama und Papa zu fahren. Traudel hatte sich fröhlich beschwipst dazu neben ihn geklemmt. Myrtenkrönchen und Schleier waren längst verschwunden, doch den weiten Rock in dem engen Auto unterzubringen, hatte sie Mühe. Ich stopfte ihr noch die letzen Zipfel von Rock und Petticoat mit hinein. Die Hochzeitsgesellschaft umstand johlend das Auto. Da waren wohl alle Leute in der Umgebung wach geworden. Alle winkten zum Abschied, als gingen Traudel und Karl-Heinz auf Hochzeitsreise. Alle lachten und winkten immer noch, als sie nur ein paar Meter weiter wieder hielten, ausstiegen und mit Mama und Papa im Haus verschwanden.
Die Hochzeitsgäste zerstreuten sich. Die einen gingen zur U-Bahn, die andern zur S-Bahn und einige zur Straßenbahn