Urs Rauscher

Die Zweitreisenden


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      Urs Rauscher

      Die Zweitreisenden

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       I

       II

       III

       IV

       V

       VI

       VII

       VIII

       IX

       X

       Impressum neobooks

      I

      Martin stand an der Balkontüre und drehte sich eine Zigarette. Gerade hatte er gegen Benjamin ein Spiel Real Madrid gegen Chelsea verloren. Sie hatten es auf ihrem Fernseher im Wohnzimmer gespielt. Wie jeden Abend. Wie schon seit Jahren.

      „Revanche“, brüllte Benjamin und fuchtelte triumphierend mit seinem Controller herum.

      „Gleich“, sagte Martin angefressen. Seinen Controller hatte er aufs Sofa gepfeffert. Jetzt blinkte dieser. Das schnurlose Gerät wollte geladen werden.

      „Lass dir die Verlierer-Zigarette schmecken“, spottete Benjamin.

      „Ja“, knurrte Martin und trat auf den Balkon. Er wusste, dass Benjamin diesen Moment auskosten musste. Die nächste Niederlage kam bestimmt. Da sie das Spiel schon ungefähr gleich lang spielten, waren sie auch ungefähr gleich gut. Es kam nur auf die Tagesform an. Und darauf, wer gerade eine Glückssträhne hatte. Noch konnte er sich in der mentalen Balance halten, aber wenn er ein paarmal häufiger verlieren würde, wäre der Abend gelaufen.

      „Ich schalt mal um“, hörte er Benjamin von drinnen sagen. In den Spielpausen switchten sie gerne zwischen Spielkonsole und TV hin und her. Den Fanjubel in der Endlosschleife konnten sie sich sparen.

      Es war kalt hier draußen. Einen Moment überlegte er, die Jacke zu holen, dann aber entschloss er sich zum Quickie-Rauchen. Auf dem Balkon standen überall leere Bierflaschen herum. Dazu randvolle Aschenbecher. Und Bierflaschen, die als Aschenbecher missbraucht worden waren. Es roch nach Vergorenem mit einer Prise Asche. Sie hatten den Bierwald jetzt lange genug aufgeforstet. Es wurde Zeit, dass sie mit der Rodung begannen.

      „Matti, Schau dir das mal an!“, rief Benjamin von innen. Martin kannte diese Form von Ausrufen. Es konnte sich um nichts Besonderes handeln. Aber er beeilte sich, ins Warme zu kommen. Nichts hasste er mehr als den Spätherbst.

      „Jetzt wollen sie ans Eingemachte“, sprach Benjamin vor sich hin, wie gefesselt von dem, was er vom Fernseher verabreicht bekam.

      Martin steckte seinen Controller ans Ladekabel und sah erst dann auf den Bildschirm. „Was meinst du?“

      „Sie machen ernst“, sagte Benjamin konsterniert und sank ein Stück weiter in seinen Sessel ein.

      Martin sah in der Totalen ein großes Gebäude mit einem roten Logo. „Ist das die Arbeitsagentur?“

      Benjamin sparte sich die Antwort. „Jetzt verschicken sie die Leute ins Ausland. Wie in einem schlechten Film.“

      Martin setzte sich in seinen Sessel und griff nach seinem Bier. Bevor er weiterfragte, nahm er einen Schluck. Es war schon schal geworden.

      „Du meinst…? Sie schicken Arbeitslose ins Ausland?“

      „Nein Babys…“ Benjamin schnellte nach vorne und sah ihn mit aufgerissenen Augen an. „Natürlich Arbeitslose! Was denkst denn du?“

      „Ach du Scheiße.“ Begreifen sickerte Martin in die Glieder. Er verschluckte sich und prustete eine feine Fontäne formidabelsten Flaschenbiers in Richtung der Mattscheibe.

      „Ja. Scheiße.“

      „Das ist das Ende des Sozialstaats.“

      „Das ist das Ende von uns“, korrigierte ihn Benjamin.

      „Ich geh wieder jobben“, sagte Martin und fuhr sich durch den lockigen Haarschopf.

      „Einen Scheiß gehst du. Die haben uns schon auf der Liste. Die sparen jetzt nicht nur Geld, jetzt können sie sogar was mit uns verdienen. Das ist moderne Sklaverei!“

      „Aber das können sie doch nicht machen. Stell dir mal vor, jemand hat Familie. Oder Eltern, die er pflegen muss.“

      „Hab ich Familie?“, fragte Benjamin rhetorisch.

      „Nein.“

      „Hast du Familie?“

      „Nein.“

      „Willkommen in Nicaragua, Martin Kimmel!“

      „Fuck!“

      „Vier Millionen Arbeitslose. Vier Millionen Leiharbeiter für Südamerika, Asien, Afrika! Wenn der Staat nur nen Tausender Leihgebühr pro Person pro Jahr einstreicht, sind das schon 4 Milliarden Euro Mehreinnahmen. Die man zu den Milliarden-Einsparungen addieren kann.“

      „Dann kann die Bundeswehr so richtig aufrüsten.“

      „Bundeswehr ist das Stichwort!“, stieß Benjamin aus. „Wir können froh sein, dass man uns nicht am Hindukusch verheizt. Wie das die Amis mit ihren Arbeitslosen machen.“

      „Und.“ Martin wurde gerade ein erschreckender Fakt bewusst. „Akademiker sind besonders wertvoll.“

      „Natürlich!“, sagte Benjamin, als wäre sein Freund schwer von Begriff. „Wir bringen am meisten ein. Deswegen sind wir auch die Ersten, die verschickt werden…“

      „…um für einen Hungerlohn einen anspruchsvollen Job zu machen“, führte Martin den Gedanken fort.

      „So ist es“, sagte Benjamin und rülpste.

      „Ich muss jetzt erst mal ne Tüte rauchen“, sagte Martin geschockt und griff nach dem durchsichtigen Beutel mit dem Gras, der auf dem Wohnzimmertischchen lag.

      „Gute Idee“, meinte Benjamin mit biervollem Mund. Er sah plötzlich sehr müde aus. „Kein Bock auf Zocken mehr.“ Sein struppig-blondes Haar war seit Wochen nicht mehr geschnitten worden.

      Einige Joints und Biere später lagen beide noch tiefer in ihren Sesseln, waren aber nicht weniger von der Rolle. Rauchschwaden umgaben sie. Und sie fassten einen Plan.

      Martin und Benjamin bezogen schon seit über zwei Jahren das Arbeitslosengeld II, im Volksmund Hartz IV genannt. Sie bezogen es, weil sie nach dem Studium keinerlei Versuche unternommen hatten, einen ordentlichen Job zu bekommen. Ihr geisteswissenschaftliches Studium hatte ihnen als Ausrede gedient, sich gar nicht erst auf Jobsuche zu begeben, waren doch die Berufsaussichten für Historiker und Philosophen äußerst beschränkt. Eine Weile hatten sie nach dem Abschluss noch gejobbt, dann hatten sie festgestellt, dass es sich wesentlich besser feierte, kiffte und zockte,