Urs Rauscher

Die Zweitreisenden


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Schufterei anfangen. Weil Geld gibt’s nächsten Monat sicher nicht mehr.“

      „Pff. So ne Scheiße. Aber immer noch besser als in Caracas schuften.“

      „Das meine ich auch.“ Martin erhob sich mühsam.

      Benjamin stand ebenfalls auf. „Ich trinke noch ein Absacker-Bier und dann hau ich mich hin.“

      „Nacht.“

      In dieser Nacht träumte Martin, man hätte ihn wegen seiner Arbeitslosigkeit ins Ausland verschickt. Plötzlich jedenfalls war er in Argentinien, ohne sich jedoch an den Flug erinnern zu können. Doch es war nicht das Argentinien der Gegenwart, sondern, wie er herausfand – er konnte aus irgendeinem Grund Spanisch -, die spanische Kolonie im 18. Jahrhundert, und er musste in einem Bergwerk schuften und Silber schürfen. Schweißgebadet wachte er auf.

      Sämtlicher Alkohol, sämtliches Nikotin waren wie weggeblasen. Er war hellwach. Nur die Angst, die ihn am Abend befallen hatte, hatte ihn noch nicht verlassen. Mit einem schummrigen Gefühl setzte er sich an seinen PC. Es war fünf Uhr. In der Mediathek eines öffentlich-rechtlichen Senders suchte er nach Beiträgen zu den neusten Plänen der Arbeitsagentur. Was er zu Gesicht bekam, verschlug ihm die Sprache: Die Auslandsverschickung von Arbeitslosen hatte schon vor längerer Zeit begonnen. Er fing an, an seinen Nägeln zu kauen. In chronologischer Reihenfolge ging er die Beiträge durch. Erste Meldungen hatte es bereits im Spätsommer gegeben. Allein im Raum Berlin waren bereits um die 200 Arbeitsaussiedlungen durchgeführt worden, in aller Herren Länder. Die Meldung darüber datierte von vor einer Woche. Es gab keinen Zweifel: Sie würden die nächsten sein.

      Er kratzte sich unter seiner Boxershorts und stellte fest, dass er Pinkeln musste. Als er wieder aus der Toilette kam, hörte er aus dem Wohnzimmer vertraute Geräusche. Er öffnete die Türe. Benjamin saß vor dem Fernseher und spielte ein Match gegen den Computer. Wortlos setzte er sich daneben und schaltete den Controller an. Während sie spielten, richtete er nur einmal das Wort an seinen Freund: „Hast du es auch gelesen?“ Benjamin furzte und nickte.

      Am Morgen wurde Benjamin geweckt, indem man ihm ein nasses Handtuch ins Gesicht schlug. Er bäumte sich im Bett auf und schimpfte seinen Freund ein verdammtes Arschloch.

      „Hej, Benni! Weißt du nicht mehr, was heute ansteht“, fragte Martin mit ernstem Gesicht. Er war rasiert und frisiert. Seine Löckchen waren gegelt und nach hinten gekämmt. Ein seltener Anblick.

      „Was denn?“

      „Heute ist unser großer Tag“, erklärte Martin und holte nochmals mit dem Handtuch aus.

      Benjamin streckte schützend die Hand aus und zog die Augenbrauen zusammen. „Das war doch nur ein Traum, oder?“

      „Nein.“ Martin warf ihm eine Zigarette in eine Kuhle seiner Bettdecke. Es war eine Filterzigarette. Es musste einen feierlichen Anlass geben. Beide rauchten sie aus Kostengründen nur Selbstgedrehte. „Da! Komm erst mal klar.“

      „Ich habe das nicht nur geträumt?“, fragte Benjamin verschlafen und griff nach der Zigarette.

      „Schön wär’s! Ich habe vorhin nochmal im Internet nachgesehen. Kein Traum. Ein echter Alptraum.“

      „Mann. Und ich habe geträumt es wäre nur ein Alptraum und ich würde wieder aufwachen. Alles wäre so wie bisher.“ Er wälzte sich mit einer unendlich zähen Bewegung aus dem Bett, so dass seine kleine Wampe herunterhing. Die schweißverklebten Haare standen ihm in alle Richtungen ab.

      „Jetzt erstmal rauchen und dann ab unter die Dusche! Es gibt noch einiges zu bereden.“

      „Bist du jetzt hier der Wortführer?“, fragte Benjamin unwillig und blinzelte ins Morgenlicht.

      Martin sagte nichts und verchwand.

      Nach der Dusche, unter der er genüsslich geraucht hatte, fand Benjamin seinen Freund auf dem Sofa. Der kaute an einem Stück kalter Pizza. Da sie am Vorabend Döner gehabt hatten, musste es Pizza von Vorgestern sein. Er nahm sich auch ein Stück aus der fettdurchtränkten Pappschachtel und setzte sich auf den Sessel gegenüber.

      Vergeblich suchte er im Aschenbecher nach dem Stummel eines Joints, in dem noch ein Rest Gras auf ihn wartete. Als er keinen fand, griff er nach dem Grasbeutel, aber Martin hatte etwas dagegen. „Heute nicht“, sagte er.

      „Warum?“, entgegnete Benjamin angefressen und legte sie zurück.

      „Wir müssen klar sein, wenn wir das durchziehen wollen.“

      „Das ist nicht dein Ernst. Das war doch eine reine Schnapsidee.“

      „Überhaupt nicht. Es ist unsere einzige Möglichkeit, da irgendwie rauszukommen.“

      „Und wenn wir es nicht reinschaffen? Wenn wir erwischt werden? Dann sperrt man uns ein.“

      Martin wurde ungehalten. „Und wenn wir es nicht tun? Dann sind wir erst Recht am Arsch. Wir müssen es zumindest versuchen.“

      „Und? Hast du eine Idee, wie wir reinkommen sollen? Ocean’s Eleven? Schonmal irgendwo eingebrochen? Häh?“

      „Ich hab schon drüber nachgedacht…“

      Mit einem Mal mal hellte sich Benjamins Gesicht auf. Seine Augen traten hervor wie von einem Geistesblitz bewegt, der sein Gehirn nach außern stülpte. „Ich hab’s. Wir steigen über’s Dach ein.“

      Martin blickte skeptisch. „Ach? Und da sind die Türen offen? Von dort aus kommen wir überall hin?“

      „Zum Haupteingang jedenfalls können wir nicht rein. Hintereingang? Auch ganz schlecht. Es muss auf dem Gebäude noch eine Türe geben. Für den Hausmeister.“

      „Und die stemmen wir auf?“

      „Jo.“ Benjamin grinste beim Gedanken daran. Auch er hatte die ungeschnittenen Haare mit Gel in Form gebracht. „Einen Werkzeugkasten haben wir ja.“

      Martin erinnerte sich an das Ding, das sie seit dem Einzug vor acht Jahren nicht mehr angerührt hatten.

      „Fragt sich nur, wie wir auf’s Dach kommen“, sagte Benjamin, spann dann aber den Gedanken sofort weiter und hob die Hand. „Natürlich! Über das Nachbargebäude!“

      „Und wie kommen wir auf das Dach vom Nachbargebäude?“

      „Da fällt uns schon etwas ein.“

      „Und wenn die Agentur eine Alarmanlage hat?“, machte Martin seine Bedenken geltend und spuckte ein Stück harten Pizzarand aus.

      „Wer will schon ins Arbeitsamt einbrechen?“, erwiderte Benjamin geistreich. Martin grinste. Dann arbeiteten sie den Plan weiter aus.

      Um zwei Uhr ging Martin zum Chinesen um die Ecke und besorgte ihnen Nasi Goreng.

      Um sieben Uhr Abends ging Benjamin zum Chinesen und besorgte ihnen Bami Goreng.

      Dazwischen spielten sie Pro Evolution Soccer. Martin war besser.

      Um neun Uhr widerstand Benjamin der Versuchung, ein Bier zu trinken.

      Um zehn Uhr widerstand Martin der Versuchung, ein Bier zu trinken.

      Um 11, um 12, um 13, um 14, um 15, um 16, um 17, um 18, um 19, um 20, um 21, um 22 Uhr und zwischendrin widerstanden beide der Versuchung, einen Joint zu rauchen.

      Um 22:30 holte Benjamin den verstaubten Werkzeugkasten. Nur der Schraubenzieher und der Schraubenschlüssel waren angerostet.

      Um 22:45 spielten sie ein Match Bayern gegen Manchester City. Benjamin spielte mit City und war besser. Martin schimpfte Dzeko eine verdammte Drecksau und Aguero einen Drecksgaucho.

      Um 22:55 Uhr standen beide auf und zogen sich Jacken an.

      Um 22:56 Uhr fragte Benjamin: „Sollen wir nicht besser eine rauchen?“

      Um 22:59 Uhr drückte Martin die Tüte aus.

      Um 23:00 Uhr standen sie vor dem Haus auf der anderen Straßenseite,