Urs Rauscher

Die Zweitreisenden


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und fuhr unschlüssig in der Luft über die Klingelleiste.

      „Mach schon!“, drängte Martin und stellte sein Bier ab.

      „Wo?“

      „Irgendwo. Nur nicht ganz oben.“

      Benjamin klingelte in der Mitte. Auch er stellte sein Bier ab. Nachdem niemand aufmachte, klingelte er unten.

      Sie hatten Glück. Jemand machte ihnen ungefragt auf. Sie traten ins Treppenhaus. Dann aber öffnete sich im ersten Stock eine Tür und eine männliche Stimme rief, wer denn da sei. Sie gingen unter der Treppe in Deckung und stellten sich tot, bis das Licht ausging

      „Okay. Jetzt die Jacken aus“, sagte Martin.

      Sie streiften die Jacken ab und legten sie unter die Treppe. Nach weiteren fünf Minuten gingen sie im Dunkeln ins oberste Stockwerk. Es gab zwei Wohnungen. Auf der rechten Seite klingelten sie. Den Werkzeugkasten trug Martin unter seinem weiten Wollpulli.

      Es dauerte eine Weile, dann machte ihnen ein Mann auf; Typ argloser Vater, breite Zähne, langer Mund, schmales Gesicht, Brille; und über allem: eine gedeihende Halbglatze. „Ja?“

      „Wir kommen von unten“, ergriff Benjamin die Initiative. „Unsere Toilette ist verstopft.“

      „Von wo kommen sie?“, fragte der Mann verdutzt und rührte sich keinen Fleck.

      „Ein Stockwerk tiefer“, sagte Martin. „Wir sind Nachbarn. Wir sind neu eingezogen, vielleicht haben Sie uns deshalb nicht…“

      „Mittschneider oder Fläßiger?“

      „Mittschneider“, sagte Martin.

      „Fläßiger“, sagte Benjamin fast gleichzeitig.

      „Er wohnt bei Fläßiger, ich bei Mittschneider“, erklärte Martin dem Mann, der nun sehr verwirrt dreinblickte.

      „Wusste gar nicht, dass beide ausgezogen sind…“

      „Das kann schnell gehen“, sagte Martin.

      Der Mann kratzte sich am Kopf. „Offenbar.“

      „Wir müssten mal bei Ihnen einkehren“, insistierte Benjamin mit gequältem Gesichtsausdruck.

      „Fäkal“, ergänzte Martin.

      Beide guckten sie untröstlich.

      Der Mann zuckte angewidert mit dem Mund. „Und in beiden Wohnungen ist die Toilette verstopft?“, wurde er misstrauisch.

      „Muss das gleiche Rohr sein“, erklärte Benjamin. „Irgendwie geht gar nichts mehr.“

      Voller Ekel zog der Mann die Augenbrauen hoch und fragte: „Und Sie müssen also beide gleichzeitig…?“ Er zeigte mit dem Daumen hinter sich.

      „Ja“, sagten die beiden Freunde synchron.

      „Na, dann“, brummte der erweichte Familienvater und tat einen Schritt zur Seite.

      Martin und Benjamin schoben sich in die enge Wohnung. Als der Mann Martins kastenförmigen Bauch erspähte, fragte er: „Was haben Sie da?“

      „Übergewicht“, sagte Martin.

      Der Beschwindelte guckte, als müsste er einem Leid tun.

      Martin ging als erster auf die Toilette. Als er sich eingesperrt hatte, wollte ihr unverhoffter Gastgeber von Benjamin wissen: „Und wohin gehen Sie, wenn Sie mal…äh?“

      „Balkon“, erwiderte Benjamin.

      Der Mann hielt sie nun endgültig für Barbaren.

      „Haben Sie keinen?“, fragte Benjamin.

      Doch der Mann war schon wortlos in die Küche geflohen. Gerade als Benjamin in die Toilette huschen wollte, ging eine Tür auf und ein kleines Mädchen blickte ihn mit schwarzen Kulleraugen an. Er fand einen zermatschten Marsriegel in der Hosentasche und reichte ihn dem Kind. Dann ließ er sich von Martin aufmachen.

      Sein Freund hatte bereits das Toilettenfenster aus den Angeln gehoben und den Werkzeugkasten nach draußen gestellt. Jetzt machte er sich dran, seinen Bauch durch das nicht gerade große Fenster zu zwängen. Dieses führte tatsächlich geradewegs hinaus auf das geteerte und mit Kieseln belegte Dach. Gerade als Martin seine Bauchmuskeln erfolgreich bemüht hatte und nach draußen verschwunden war, hörte Benjamin ein heftiges Klopfen und ein ärgerliches Rufen aus dem Wohnungsflur. Auch eine Frauenstimme war zu vernehmen. Er machte einen Satz durch die Luke. Er hatte es geschafft. Das war der Beweis: Er war weniger fett als sein Freund!

      Martin erwartete seinen Mitstreiter im Mondschein. Hier oben ging ein unangenehmer Wind. Doch das war ihm egal. Alles fand sich vor wie vermutet. Man musste nur einen halben Meter Spalt und noch einmal etwa so viel Höhenunterschied zwischen den Häusern überspringen, und man war auf dem Dach des Arbeitsamts. Hier befand sich auch ein Aufbau mit einer Tür. Gleich würden sie im Inneren der heiligen Hallen verschwinden.

      Es konnte nicht mehr lange dauern, und der hysterische Heimwerker würde die Toilettentüre aufgebrochen haben. Sie mussten also schnell vorgehen. Benjamin öffnete den Werkzeugkasten und nahm sämtliche großen Geräte heraus. Damit bearbeiteten sie die grüne Metalltüre. Oben, unten, links, rechts. Gleichzeitig. Allein. Doch nichts zu machen.

      „Wir hätten ein Stemmeisen mitnehmen sollen“, meinte Benjamin entgeistert.

      Martin atmete schnell. „Scheiß drauf“, sagte er und deutete auf ein vergittertes Fenster.

      Das Gitter ließ sich ohne Probleme entfernen. Das Glas in den Fensterrahmen ebenfalls. Schließlich brachen sie auch den Fensterrahmen heraus. Kurz danach hörten sie die Toilettentüre des Nachbarn bersten. Sie gelangten schneller durch das Fenster als eine Maus in ihr Mauseloch. Drinnen stellten sie sich einmal mehr tot. Nach einer kurzen Verschnaufpause tasteten sie sich langsam im Dunkeln vorwärts.

      „Oh, Mann. Wir hätten eine Taschenlampe mitnehmen sollen“, sagte Benjamin. Es klang wie ein Vorwurf. Der ihn selbst ausnahm.

      „Du hättest deine Augen mitnehmen sollen“, sagte Martin mit einem Siegerlächeln und schaltete das Licht an. Sie befanden sich in einem Treppenhaus. Ihre Haare waren wieder so durcheinander wie immer. Benjamins Sweatshirt hatte unschöne Staubschlieren.

      Aber wie sie aussahen, war für sie jetzt ohne Bedeutung. Denn gerade wurden ihre kühnsten Träume übertroffen: Tatsächlich war keine der Türen verschlossen. Man konnte sich mühelos im gesamten Gebäude bewegen. Martin hatte Recht behalten: Es gab keine Alarmanlage. Grinsend, sich immer wieder ungläubig anschauend, durchstreiften sie die Flure dieses ehrwürdigen Ortes, in dem die Knappen des Nichtstuns zu Rittern der Arbeit geschlagen wurden. Wären sie in die Krypta des Petersdoms eingebrochen, es hätte nicht feierlicher sein können. Genau ein einziges Mal waren sie zuvor hier gewesen. Unter allerdings vollkommen anderen Vorzeichen.

      Es roch penetrant nach Putzmittel. Das oberste Stockwerk bestand nur aus Büroräumen und einem Wartesaal. Keine Server, keine Aktenregale, keine Karteikästen. Ein paar Rechner, Schreibtische, Drehstühle, das war alles. Nichts vom dem, wonach sie gesucht hatten. Auch nicht das, wonach Benjamin wohl parallel Ausschau gehalten hatte, denn er offenbarte sich jetzt seinem Freund: „Ich muss pissen.“

      „Dann geh halt auf die Toilette“, meinte Martin belustigt und ließ leise ein Konfirmandenblase folgen.

      „Hier ist keine“, bemerkte Benjamin mit zunehmender Ungeduld.

      „Dann halt ein Stockwerk drunter.“

      Doch auch dort fanden sie keine Örtlichkeiten.

      „Sorry, Matti“, sagte Benjamin und riss sich den Hosenschlitz auf, sobald sie wieder ihm Treppenhaus waren.

      „Oh, Mann“, stöhnte sein Begleiter und schlug die Hände vor die Augen. Dann hörte er ein Plätschern.

      Sekunden später stand er neben dem Größeren, der sein Glied abschüttelte.

      „Das Bier“, meinte Benjamin