Urs Rauscher

Die Zweitreisenden


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      „Dann haben wir ja noch ein paar Stunden“, sagte Martin sarkastisch.

      „Hej, Matti“, bemerkte Benjamin überrascht. „Ich hab hier unten Empfang!“

      In dem Moment hörte man das Geräusch. Er empfing eine SMS.

      „Wer ist es?“, wollte Martin wissen und beugte sich über das Display.

      Benjamin drückte auf öffnen.

      Beide hörten sie ein lautes Klappgeräusch.

      Sie hoben die Augen. Die Tür des Mega-Servers war aufgesprungen.

      „Das glaub ich jetzt nicht!“, stieß Benjamin aus.

      „Was hast du gemacht?“ Martin war wie versteinert.

      Benjamin sah verdutzt auf das Display. Dann wieder zur Metalltür des Riesenrechners.

      Martin sprang auf und ging direkt auf die Öffnung zu. Gebannt schaute er hinein.

      Benjamin konnte den Blick nicht vom Display lösen. „Ich hab… Ich hab die SMS geöffnet.“

      „Mit deinem Uralt-Handy?“

      „Ja.“

      „Was hast du für ein OS drauf?“

      „Keine Ahnung. Nick hat mir letztes Jahr mal eins draufgespielt. Damit ich die neuesten Apps verwenden kann.“

      „Eine Raubkopie?“

      „Vermutlich.“ Benjamin zuckte mit den Achseln. „Ja.“

      Eilig stieg Martin ein. Von innen sah der Computer aus wie die Kapsel eines Raumschiffes. Durch einen kleinen Gang konnte man ins Innere gelangen. Im Kern gab es einen winzigen Raum, der Rest war wohl Elektronik. Hier fanden höchstens vier Leute Platz. Gerade genug, um Wartungsarbeiten durchzuführen.

      Nach einigem Zögern folge ihm Benjamin. „Und? Kommen wir an die Elektronik ran?“, fragte er.

      Martin sah sich um. „Sieht nicht so aus.“

      „Hej, hier kann man sich ja hinsetzen“, stellte Benjamin fest. An der Wand gab es eine schmale Bank.

      „Sieht aus wie eine Raumkapsel“, sagte Martin unschlüssig.

      „Eine sehr unbequeme“, ergänzte Benjamin und ließ sich nieder.

      „Oder eine Zeitmaschine“, witzelte sein Freund. „Als Historiker weißt du das doch sicher: Wann wurde die Zeitmaschine erfunden?“

      Benjamin sah ihn unberührt an. „Sehr witzig.“

      Jetzt saßen sie genauso tatenlos herum wie zuvor. Das einzige, was sie entdeckten, war eine Display-Leiste auf der gegenüberliegenden Seite, ungefähr auf Kopfhöhe. Sie war aus.

      Die Metallbank schnitt in ihre Hintern.

      Benjamin seufzte. „Wie gerne würde ich jetzt eine rauchen.“

      „Oh, ja“, pflichtete ihm Martin bei.

      „Wir hätten was mitnehmen sollen.“

      „Wer hat eigentlich geschrieben?“, kam Martin auf die SMS zurück.

      Benjamin sah nach. Es war eine Werbemail. Als er die SMS löschte, bemerkten beide ein Blinken in ihren Augenwinkeln.

      Das schmale Display war angegangen. Es war eine Ziffernleiste. Grün leuchtete eine Acht neben der anderen. Etwa zwanzig Ziffern.

      „Mach das nochmal!“, rief Martin fassungslos.

      Benjamin tippte auf dem Display herum, aber nichts geschah. Auch als er das Handy ausschaltete, ging die Ziffernleiste nicht mehr aus.

      „Probier weiter“, drängte Martin. Dummerweise hatte er sein Smartphone zuhause gelassen.

      Benjamin schaltete das Ding wieder an, ging sämtliche Apps durch, löschte SMS, spielte herum. Nichts passierte.

      Dann kam er auf die Idee, Nick anzurufen und ihn zu fragen, was für ein OS dieser ihm aufgespielt hatte. Die Nummer hatte er zwar nicht gespeichert, sie dafür aber im Kopf. Er tippte los.

      Martin, der die Augen nicht von den Ziffern gelassen hatte, rüttelte plötzlich seinen Freund am Arm. „Jetzt, Benni! Es passiert was!“

      Benjamin hob den Blick, ohne das Eintippen der Zahlen zu unterbrechen. Er war jetzt wie in Trance. Gleich würde die letzte Acht ihre Form gewechselt haben. Es erschienen exakt die Zahlen, die er in sein Handy eingegeben hatte.

      Sobald die letzte Acht in eine 9 umgesprungen war, begann alles zu vibrieren. Am stärksten vibrierten die beiden Freunde selbst.

      Sie konnten kein Wort mehr sagen, nur noch stöhnen und schreien. Nach zwanzig Sekunden erbrachen sie sich synchron.

      Dann vibrierten sie so sehr, dass sie die Münder nicht mehr aufbrachten.

      Dann vibrierten sie so sehr, dass sie ihre Körper nicht mehr spürten.

      Dann vibrierten sie so sehr, dass sie nur noch ein helles Licht sahen.

      Schließlich spürten sie einen riesigen Schmerz im halben Körper, aber kein Vibrieren mehr. Es war dunkel.

      Es ist dunkel, weil wir tot sind, dachte Martin.

      Es ist dunkel, weil der Strom ausgefallen ist, dachte Benjamin.

      Es ist dunkel, weil wir die Augen geschlossen haben. Sie bemerkten es zur selben Zeit. Beide schlugen sie die Augen auf.

      Martin schloss sie wieder. Schlug sie wieder auf.

      Benjamin schloss sie wieder. Schlug sie wieder auf.

      Die Raumkapsel vibriert so sehr, dass sie aussieht wie ein trockenes Feld im Sommer, dachte Benjamin.

      Die Raumkapsel vibriert so sehr, dass sie aussieht wie ein blauer Himmel und eine Sonne, dachte Martin.

      Alles nur Schwingungen, dachte Martin. Demokrit hatte Recht.

      Ich hätte keine Drogen nehmen sollen, dachte Benjamin. Mütter haben Recht.

      LSD ist nur der Anfang, dachte Martin. Nick hatte Recht.

      Man kann die Vergangenheit verstehen, indem man die Zukunft betrachtet, dachte Benjamin. Historiker haben Recht.

      Ich habe nur auf einer Körperseite Schmerzen, dachte Benjamin. Die Raumkapsel vibriert auf einer Seite zu langsam.

      Ich habe nur auf einer Körperseite Schmerzen, dachte Martin. Ich bin horizontal verdreht drei Meter gegen die vibrierende Kapselwand gefallen.

      Ich bin aus drei Metern auf den Bauch gefallen, fasste Benjamin beider Gedanken zusammen. Hier ist ein staubiger Acker und die Sonne scheint. Dies ist der vibrierende Traum einer Raumkapsel auf LSD, aber ich kann trotz meiner Schmerzen aufstehen und meinem Freund, der im selben Traum aus drei Metern auf dem Rücken gelandet ist, auf die Beine helfen.

      Als Martin stand, in die Sonne blinzelte und sich die schmerzenden Glieder hielt, stöhnte er: „Danke.“

      Benjamin sah in die Ferne. Der Schmerz ließ nach. Er blickte an sich hinab. Er sah aus wie ein Staubwedel nach ausführlichem Gebrauch.

      Martin suchte ebenfalls den Horizont ab. „Okay“, sagte er. „Okay.“

      „Mann!“, stieß Benjamin aus. „Unfassbar geil das.“

      „Wenn mir nicht alles weh tu würde.“

      „Wenn es nicht so verdammt heiß und scheiße hier wäre.“

      „Okay. Okay“, sagte Martin und sah abwechselnd auf seine Schuhe und auf den unendlichen Acker vor sich.

      „Alles klar?“, erkundigte sich Benjamin.

      „Ja. Bis auf die Schmerzen“, erwiderte Martin lakonisch.

      „Ich muss“, jammerte Benjamin in einem Anflug plötzlicher Verzweiflung. „Das alles noch mal