Urs Rauscher

Die Zweitreisenden


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doch Martin beharrte darauf, systematisch vorzugehen. Benjamin spürte noch Reue und kam auf die Aktion von gerade eben zurück. Er meinte, das wäre nicht so schlimm wie den Akt der Zerstörung, den Martin gestern vorgeschlagen hätte. „Is gut“, erwiderte dieser.

      Noch bevor sie die Türe zum nächsten Stockwerk aufstießen, warf Martin eine weitaus wichtigere Frage auf: „Wie kommen wir hier eigentlich wieder raus?“

      Benjamin blieb stehen: „Das fragst du mich? Das hier war doch deine Idee.“

      „Unsere“, bestand Martin.

      „Meinetwegen unsere. Trotzdem waren wir zu blöd, uns Gedanken darüber zu machen. Das sollten wir vielleicht jetzt tun.“

      „Warum jetzt?“

      „Weil wir vielleicht gleich schnell hier raus müssen.“

      „Wieso?“ Martin setzte sich auf eine Treppenstufe.

      „Weil die Server wahrscheinlich mit einer Alarmanlage verbunden sind. Auf jeden Fall merkt es jemand irgendwo, wenn sie ausgehen.“

      Martin stuzte. „Meinst du?“

      „Manchmal frag ich mich, ob du überhaupt studiert hast.“

      „Danke, Benni. Das tue ich bei dir auch manchmal.“

      „Ja?“

      „Ja, Herr Historiker. Du bist häufig ganz schön schwer von Begriff. Und viel weißt du inzwischen auch nicht mehr. Außer den Kadern von sämtlichen europäischen Erstligisten.“

      „Ja, Herr Philosoph.“ Benjamin hob seine vorspringende Nase. „Es kann halt nicht jeder so belesen sein wie du. Obwohl, du vergisst auch gerne mal was. Zum Beispiel Abspülen und Einkaufen. Was?“

      „Oh, ja. Lass uns weiter streiten. Wir haben bis morgen um fünf Zeit. Dann kommt der Hausmeister.“ Martin schnellte in den Stand.

      Benjamin klopfte sich die Hose ab; überall Staub und Dreck. Auch er war bereit, seinen Hitzkopf zu kühlen. „Wir finden schon einen Weg. Notfalls wieder über die Dächer.“

      „Hehe.“ Martin amüsierte der Gedanke. „Assassin’s Creed für Übergewichtige.“ Er legte seinen Arm auf Benjamins Schulter.

      Für einen Moment blickten die blauen Augen des Norwegers gütig auf den gelockten Gefährten hinunter. Es roch nach Urin.

      „Okay. Weiter geht’s“, verkündete Benjamin und stieß die Tür auf.

      Was sie hier vorfanden, verschlug ihnen die Sprache. Denn auf diesem Stockwerk befanden sich keine Büros, sondern nur leere Hallen. Weiter hinten gelangten sie in einen Raum, der mit nichts als Postkarten gefüllt war; Motive aus aller Welt. Dann fanden sie den Aktenraum. Es waren Akten über Personen; Menschen, die sich arbeitslos gemeldet hatten. Von Servern war immer noch keine Spur.

      Das nächste Stockwerk war mit dem vorherigen identisch.

      Als sie in ein Stockwerk ohne Fenster gelangt waren, wusste sie, dass sie sich im Keller befanden. Dieser war ebenfalls vollgestopft mit Akten. Sie suchten nach ihren Namen, fanden diese aber nicht. In Papierform waren sie also nicht erfasst worden. „Wie ich gesagt habe“, sah sich Martin bestätigt.

      Zu ihrer Überraschung gab es noch ein weiteres Kellergeschoss, erst weiter unten schloss die Treppe engültig ab. Eine gelbgestrichene Tür versprach weitere Räumlichkeiten. Hinter ihr mussten die Server untergebracht sein. Als sie die schwer gehende Türe aufmachten, kam ihnen kein Putzmittelgeruch, sondern der Gestank von Motoröl und versengtem Gummi entgegen. „Mit was betreiben die denn ihre Computer?“, frage Benjamin.

      Doch sobald das Neonlicht aufgeflackert war und sich stabilisiert hatte, mussten sie feststellen, dass auch hier keine Computer untergebracht waren. Dieser erste Raum, vielleicht 100 Quadratmeter groß, enthielt nur Stromkabel, Generatoren und mehrere Schaltpulte. Die beiden Freunde sahen sich ratlos an.

      Im anschließenden Saal wurde dieser Anblick dann noch getoppt. Dort stand etwas sehr Seltsames: Ein riesiges, rundes metallenes Gerät, das von überall her von dicken Stromkabeln gespeist wurde. Hier war die Luft dicht und warm. Die beiden Freunde sahen sich noch ratloser an.

      „Ich kann nicht glauben, dass wir das hier gerade machen“, meinte Benjamin.

      „Wir haben schon lange nichts Geiles mehr zusammen gemacht“, bemerkte Martin aufgeregt.

      „Ja“, sagte Benjamin wie verzaubert. „Dachte schon, wir bringen’s nicht mehr.“

      „Wir sind noch voll im Saft!“, verkündete Martin voller Euphorie.

      In der Tat waren die Zeiten, in denen in ihrem Leben etwas passiert war, schon lange vergangen. Der neuen Arbeitslosenpolitik verdankten sie, dass wieder etwas Schwung in ihren angerosteten Alltag kam. Gleichzeitig war ihnen dabei etwas mulmig zumute, denn obwohl keiner von ihnen es wahrnahm, zitterten sie trotz der Wärme. Der Nervenkitzel hatte jetzt erst so richtig begonnen.

      „Das ist also der Zentralrechner“, stellte Benjamin etwas skeptisch fest.

      „Das ist er“, sagte Martin und machte ein paar Schritte auf das Gerät zu. Er streckte die Hand nach hinten. „Gib mal den Werkzeugkasten her.“

      Benjamin, der das kompakte Plastikköfferchen seit ihrem Einstieg getragen hatte, stellte sich neben seinen Freund und schlug es auf.

      Martin beachtete es nicht. Noch immer betrachtete fasziniert er das Monstrum von Rechner. „Das ist sie also. Die Akasha-Chronik.“

      Der Große sah ihn fragend von der Seite an. „Die was?“

      „The All-Seeing-Eye. Die Ideenwelt.“

      „Ach!“ Benjamin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Philosophen-Geschwätz! Sag, Matti. Was machen wir jetzt?“

      „Die Elektronik muss drinnen sein“, beachtete ihn Martin immer noch nicht.

      „Matti!“

      „Wie?“ Martin drehte sich herum. „Ach so, ja. Wir müssen die erste Schraube finden.“

      „Dann los“, drängte Benjamin.

      „Nur wie?“

      „Warum?“

      „Siehst du eine? Ich seh nur Nieten, Schweißnähte.“

      Benjamin trat noch näher an die Gerätschaft heran, wagte aber nicht, die matt glänzende Hülle anzufassen. „Du hast Recht.“

      Beide gingen sie um das Gehäuse herum. Es hatte einen Umfang von sicher zehn bis fünfzehn Metern, war über zwei Meter hoch. Gerade so passte es in den Kellerraum. Es war aus silbernem Blech gefertigt, hatte ein abgeflachtes Dach und die fast unsichtbaren Nieten verliehen ihm von weitem den Anschein, als wäre es aus einem Guss gefertigt. Es saß unmittelbar auf dem Kellerboden auf. Auch die Stromkabel gingen an den Schnittstellen ansatzlos in das Metall über.

      Nachdem ihre Augen das Computergehäuse nach einer Schraube abgesucht hatten, gingen die beiden Freunde daran, es mit Hämmern abzutasten.

      Sie waren schon etwa zehn Minuten am Werk, da meinte Martin, eine Veränderung des Geräusches wahrgenommen zu haben. Er demonstrierte es Benjamin, der angestrengt lauschte. „Ja, klar“, stieß dieser aus und deutete auf eine unvernietete Fuge, die rechteckiges Muster darstellte. „Das ist eine Tür.“

      „Mensch, Benni“, sagte Martin fasziniert. „Du hast Recht!“ Er klopte nun stärker gegen das Blech.

      „Ein Computer mit Eingang“, raunte Benjamin.

      Bald schlugen sie wie wild auf die Stelle, die sie als Tür identifiziert hatten. Doch es passierte nichts. Erschöpft und außer Atem, gaben sie schließlich auf.

      Sie setzten sich auf den warmen Steinboden und lehten sich an die Kellerwand. Jeder grübelte darüber nach, wie sie die verdammte Tür aufbringen könnten.

      „Wie viel Uhr ist es