Urs Rauscher

Die Zweitreisenden


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ihrer Bezüge eingehandelt, aber das glichen sie mit gelegentlichen Weiterverkäufen geringerer Drogenmengen aus. Solange man das Geld nicht legal verdiente, machte man sich auch nicht des Betrugs verdächtig.

      Ein Teil ihrer Freunde war in Berlin geblieben, ein anderer Teil war weggezogen, fast alle aber hatten einen Beruf ergriffen und sich eine feste Partnerin gesucht, weswegen man sich nicht mehr so häufig sah. Dafür hatten die beiden jetzt neue Freunde, die ungefähr so verlottert und verloren waren wie sie selbst, die aber mit derselben Disziplin Marihuana rauchen und Bier trinken konnten wie die beiden unzertrennlichen Komilitonen. Von Zeit zu Zeit gingen sie bei einem dieser Freunde vorbei oder kam einer von ihnen zu ihnen nach Hause. Dann tat man dasselbe, was man auch zu zweit machte. Nur dass es ein paar seltene Gestalten gab, die mit Fußballspielen auf Konsolen nichs anzufangen wussten. Die kifften dann einfach nur.

      Das Leben war angenehm. Das Einzige, was den beiden fehlte, waren Frauen. Zwar hatte alle paar Monate mal einer von ihnen Glück und konnten eine besonders betrunkene Frau für eine Nacht aufgabeln, aber in Sachen Beziehung waren sie in der Kreisliga angelangt. Nicht nur hatten sie keinen Job, ihre Lebensweise hatte ihnen auch beiden ein ordentliches Bäuchlein und eine ungesunde Blässe beschert. Fußball, den sie früher zweimal in der Woche gespielt hatten, fand nun ausschließlich auf der Konsole statt. Technisch waren sie in Pro Evolution Soccer Asse, aber würde man sie wieder auf den echten Rasen stellen, würden sie sich bei dem ersten Sprint schwer verletzen - ohne Fremdeinwirkung. Selbst für Liegestützen und Sit-Ups waren sie nicht mehr zu gebrauchen. Körperlich und charakterlich waren sie also das Gegenteil von attraktiv, und das, obwohl beide im Studium in Sachen Liebe nicht wenig Erfolg gehabt hatten. Benjamin ein bisschen mehr als Martin, aber Erfolg hatten sie beide. Nun aber besuchten sie aus Kostengründen weiterhin ausschließlich Studentenpartys und das Publikum dort war, zugegebenermaßen, etwas jung. Sehr jung. Die beiden alten Knacker in ihren verschlissenen Klamotten kamen den Mädchen dort nicht wie potentielle Geschlechtspartner, sondern wie die verarmten Cousins des Veranstalters vor. Oder wie männliche Putzfrauen, die sich nach Dienstschluss verirrt hatten.

      Keine Chance. Benjamin und Martin verlegten sich auf Pornos und gelegentliches Resteficken. Manchmal spielten sie auch Kiss and Rush, ein Spiel, das sie in Anlehnung an eine englische Fußballtaktik benannt hatten. Dabei gingen sie bei einer Party zu einer Frau, küssten sie auf den Mund und rannten dann so schnell wie möglich außer Reichweite. Dieses Spiel spielten sie um die Wette, bis sie von der Party geworfen wurden oder der Freund eines Mädchens einem von ihnen eins verpasst hatte. Man kann sagen, dass sie in Sachen weibliches Geschlecht einen kleinen Mangel verspürten. Dennoch waren Frauen nichts, was sie dazu bewegen konnte, ihren Lebensstil aufzugeben. Dazu musste schon eine drastische Maßnahme der Arbeitsagentur das Licht der Welt erblicken. Um es kurz zu machen: Trotz ihres Drogenlevels waren beide an jenem Abend in heller Aufruhr.

      Denn so sehr sie den Herbst und den Winter hassten, so sehr ihr Leben sie manchmal anödete, während der Semesterferien hatten sie in wochenlangen Reisen die Welt gesehen, und das eine, was sie die Welt gelehrt hatte, war: Deutschland war ein Paradies. In Indien oder Nigeria wollten sie selbst mit einem Harem an Frauen nicht leben.

      Benjamin Fürstner war der etwas Größere, ca. zehn Zentimeter, und insgesamt etwas gröber Geschnitztere. Martin war stromlinienförmiger, hatte hübsche Locken und ein wohlgeformtes Gesicht, das, wenn man Benjamins Exfreundin glauben durfte, für Gesicht eines Mannes viel zu glattgebügelt war. Sie tröstete ihren Freund damit, dass dieser ein interessantes Profil habe. Damit meinte sie sein ausladendes Kinn und seine nicht minder markante Nase. Außerdem war er blond, nicht dunkelblond, sondern norwegisch-blond, was selbst in Berlin eine Seltenheit darstellte, und hatte im Gegensatz zu seinem Freund blaue Augen. Beide hatten sie also weder Grund, über ihre Erscheinung in Euphorie zu verfallen, noch sich irgendwelchen Komplexen hinzugeben. Für ein Leben auf der Couch reichte ein solches Aussehen allemal.

      Jetzt hatten sich die beiden Gesichter verfinstert und verdunkelten sich weiter um die Wette. Ihr Äußeres war jetzt wirklich das letzte Problem. Auch Triebabfuhr war nicht mehr angesagt.

      „Wir müssen was machen“, sagte Martin und drückte den Joint im Aschenbecher aus. Er drückte und drehte so lange, bis nichts mehr davon übrig blieb.

      „Aber was?“ Benjamin flätzte sich auf dem Sessel.

      „Es gibt nur eine Möglichkeit.“ Martin genoss, dass nun er der Tonangebende war. „Wir müssen irgendwie aus dem System raus.“

      „Wie soll das gehen?“ Benjamin sammelte seine Gedanken. „Das ist doch sicher alles digitalisiert.“

      „Ja, schon. Aber vielleicht noch nicht im Zentralrechner.“

      „Ach was! Du meinst, das liegt alles noch auf den Berliner Servern?“

      „Auf einem einzigen. Und zwar dort, wo wir uns arbeitslos gemeldet haben.“

      „Du willst damit sagen.“ Benjamin zeigte zur Wand, in Richtung des Arbeitsamts. „Dort?“

      „Genau.“ Martin nickte. „Auf der anderen Straßenseite. Ein Glück, dass wir uns nicht online arbeitslos gemeldet haben. Sonst wären wir jetzt zentral gespeichert.“

      „Wenn wir Glück haben! Und sie die Daten noch nicht weitergeleitet haben.“

      „Auf jeden Fall müssen wir es versuchen.“

      „Was? Hingehen und uns löschen lassen?“

      „Haha. Sehr komisch. Nein.“ Martin grinste.

      „Was dann?“

      „Hingehen und… Und uns selbst löschen.“

      „Wie? Einbrechen?“

      Martins Grinsen wurde breiter. „Ganz genau.“

      „Du spinnst doch!“ Benjamin sah ihn ungläubig an.

      „Hast du eine bessere Idee?“

      „Jetzt?“

      „Jetzt oder morgen. Hast du eine?“

      „Nee.“

      „Na, also. Spätestens morgen Nacht müssen wir da rein.“

      „Und wie? Einsteigen geht nicht. Ich bin schon über dreißig.“

      „Selten so gelacht“, meinte Martin. „Natürlich Einsteigen. Was denn sonst? Notfalls mit Gewalt.“

      „Damit sie uns gleich festnehmen?“ Benjamin streichelte seinen Bauch.

      „Also ich bin lieber hier im Gefängnis als…“

      „Ja, ja. Bei den Assis aus Neukölln? Glaubst du doch selber nicht.“

      „Na, ja, vielleicht nicht. Aber riskieren müssen wir’s trotzdem.“

      Benjamin schüttelte den Kopf. „Du bist verrückt, Matti!“

      „Und du bist dabei, Benni!“, nagelte ihn Martin fest.

      „Meinetwegen. Und warum erst morgen?“

      „Wir müssen klar im Kopf sein.“

      „Und wie willst du an die Daten ran? Vom Hacken hast du doch keine Ahnung. Genauso wenig wie ich.“

      „Wir werden nicht nur uns löschen“, sagte Martin scharfsinnig.

      Benjamin stöhnte. „Wie soll ich das jetzt schon wieder verstehen?“

      „Wir zerstören nicht die Daten, wir zerstören die physikalischen Speicher.“

      „Ah, sehr clever. Damit befreien wir also Tausende von Berliner Bürgern aus den Fängen der Arbeitsindustrie.“

      „So ist es. Wir sind dann so eine Art Freiheitskämpfer. Ich bin Robin Hood und du Little John!“

      „Du meinst wohl andersrum! Du Zwerg!“

      „Hehe. Viele, viele Menschen werden diesem Batman dankbar sein, dass er sie vor der Hölle bewahrt hat. Gothham City ist wieder frei.“

      „Und alle