Petra Hartmann

Ein Prinz für Movenna


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furchtbare Heulen des Orkans und die verlorenen Seelen der Ertrunkenen, die in seinen Träumen nach ihm riefen. Alles, alles hatte der Sturmvogel zu ertragen gelernt ...

      „Wuäääh!“

      Da schrie das Kind schon wieder. „Sag ihm, es soll still sein!“, brüllte Harrod den Riesen an. Der beugte sich hilflos über das plärrende Bündel und begann, es mit seinen rauen Händen zu streicheln. Vergebens.

      „Wuäääääh!“

      Harrod standen die Haare zu Berge. Nicht einmal die südlichen Meerhexen konnten solche Töne erzeugen. Er spürte, wie sein Herzschlag ihm das Blut in den Kopf jagte. „Sag dem Balg, es soll still sein!“, schrie er Orh an, verpasste eine Welle und bekam einen Riesenkübel eisiges Salzwasser mitten ins Gesicht, als eine Sturzwelle über die Bordwand hereinbrach. Ärgerlich wischte er sich die triefenden Haare aus der Stirn und funkelte den Riesen aus giftigen Augen an.

      Orh blickte genauso böse zurück. Mühsam richtete sich der Gigant zu seiner vollen Größe auf. Er taumelte leicht, doch das Tau, das um seine Brust geschlungen war, hielt ihn aufrecht am Mastbaum. Da stand er, Orh Jonoth aus Akkatossa, der tödlichste Krieger Movennas, hochaufgerichtet am Mast der Lachmöwe. In seiner Linken hielt er den plärrenden Säugling, die Schwerthand ruhte provozierend auf dem Knauf seiner Waffe. Ein wenig grün im Gesicht, doch immer noch eine eindrucksvolle Gestalt, wie Harrod zugeben musste.

      „Das Balg, wie du es genannt hast, ist Orsans Sohn und dein zukünftiger König, vergiss das nicht“, grollte der Riese.

      „Wuääääh!“

      „Verdammt, sei still!“, schimpfte Orh und besann sich gerade noch rechtzeitig, bevor er dem Kind mit der Pranke einen Klaps gab. Kapitän und Krieger blickten sich hilflos an.

      „Hast ja recht, Alter“, brummte der Recke schließlich versöhnlich. „Mir greift es auch an die Nerven. Ich will lieber tausend Moglàt den Schädel spalten als hier weiter den königlichen Babysitter spielen ...“

      „Wuäääh!“

      „Verdammt, Harrod, denk dir etwas aus, oder ich drehe durch!“

      „Gib ihn mir“, piepste plötzlich ein dünnes Stimmchen zu Füßen des Riesen. Orh blickte verblüfft nach unten. Sparrow, der Schiffsjunge, reichte ihm kaum bis zum Gürtel, doch er stand breitbeinig und ohne sich festzuhalten vor ihm auf den schwankenden Planken und glich das Rucken und Springen des Schiffs mit spielerischer Mühelosigkeit aus. Auch das Kind schwieg, wie vom Auftreten des Jungen aus dem Kurs gebracht, für einen Augenblick, legte dann aber mit doppelter Lautstärke erneut los.

      Ein Stoß erschütterte die Lachmöwe, und Orh wäre beinahe trotz des Halteseils lang hingeschlagen. Er ließ sich, mühevoll ächzend, wieder auf die feuchten Planken nieder. Nun schwebte sein Gesicht auf der Höhe Sparrows.

      „Setz dich zu uns, Kleiner“, hustete er. Das Springen und Stoßen des Schiffes nahm zu, und trotz der Dunkelheit konnte man sehen, wie der Hüne mit seinem Magen kämpfte. „Setz dich zu uns. Und dann zeig uns deine Kunst ...“

      Sparrow hockte sich gehorsam neben den Krieger. Mit einem geübten Handgriff verhakte er seinen Gürtel in einer Klampe des Mastbaums. Erst dann streckte er die Hand nach dem Kind aus. Der Riese zögerte. Schob dann hastig den Prinzen von sich fort und wandte sich ab. Mit weit über die Reling gebeugtem Oberkörper hing er in den Seilen und gab würgende Geräusche von sich. Und das Baby in Sparrows Arm schrie noch immer.

      „Schon gut, kleiner Varel, ganz ruhig, mein Varelian“, flüsterte der Schiffsjunge, wie er es bei seiner Mutter gehört hatte. Mit der linken Hand löste er behutsam die Tücher, in die der Säugling gewickelt war. „Kein Wunder, dass er so plärrt, der kleine Hosenscheißer“, brummte er vor sich hin. Der kleine Prinz kiekste vor Vergnügen und schien es für einen großartigen Spaß zu halten, als Sparrow die Windel angewidert über Bord schleuderte.

      „Hee, pass doch auf“, beschwerte sich Orh, dessen Kopf in diesem Augenblick wieder aus der Tiefe auftauchte. Doch Sparrow drückte ihm nur kurz das Kind in die Hand und glitt ins dunkle Achterschiff davon. Einen Moment später war er bereits wieder da, in der Hand die zerfetzten Reste des Vorsegels, das der Sturm am Abend in der Mitte durchgerissen hatte, und ein kleines Fläschchen mit Seehundsfett, das eigentlich dazu diente, die Ketten und Eisenbeschläge an Bord einzufetten und vor Rost zu schützen.

      „Meinst du, du bekommst das hin?“, fragte Orh besorgt. Er hielt das Kind mit spitzen Fingern von sich fort, und das Würgen in seinem Hals kam diesmal nicht vom Seegang.

      „Klar“, meinte Sparrow lässig. „Gib ihn mal her, deinen Prinzen.“

      Wenig später lag der movennische Thronerbe gewaschen, geölt und neu gewindelt im Arm des Schiffsjungen. Sparrow hatte sogar einen Streifen Dörrfisch in ihn hineinbekommen und einen guten Mundvoll Trinkwasser, denn an Milch für den Kleinen hatte in der Eile des nächtlichen Aufbruchs niemand gedacht.

      „Fertig?“, fragte Orh.

      Sparrow schüttelte langsam den Kopf. „Meine Mutter hat uns Kindern immer noch eine Geschichte erzählt, damit wir besser einschlafen konnten.“

      „Ho, das ist einfach. Ich werde ihm von meinem letzten Feldzug gegen die Moglàt erzählen. Und wie ich dem verwünschten Fahnenträger den Schädel gespalten habe ...“

      „Ach, hör auf. Das macht nur schlechte Träume“, versetzte der Hänfling altklug. „Nein, es muss ein freundliches Märchen sein. Und vielleicht etwas, aus dem er ein wenig über sein Land lernen kann ... Wir wollen ihm vom Leuchtturm erzählen. Vom Leuchtturm Isenfüür am Rand der Welt.“

      Rand der Welt ist gut, dachte der hochgewachsene Kämpe aus Akkatossa. Bernland, seine Heimat, begann erst eine halbe Meile hinter diesem Leuchtturm. Und weiter im Norden, da gab es auch noch Menschen. Das kleine, fischgesichtige Volk der Plukku lebte dort in Fellzelten und Eishäusern. Aber für einen Moven’Am mochte es angehen, vom Rand der Welt zu sprechen ...

      „Weißt du, wohin wir fahren, kleiner Prinz Varel?“, flüsterte Sparrow. „Geradewegs auf das Sharkenthökk-Riff fahren wir zu. Ganz oben im Norden liegt es, am äußersten Rand der Welt. Das ist so weit im Norden, dass der Nordwind dort von allen Seiten gleichzeitig mit seinen Sturmfäusten auf See und Schiffe niederjagt. Turmhoch schlägt er die Wellen dort in den Himmel hinein, und man nennt Borh, den mächtigen Nordsturm, nicht aus Langeweile den Flottenverheerer. Unter den eisigen Wellen des Bernländer Nordmeers liegen mehr Schiffe begraben, als Seeleute auf dem Friedhof von Ura ruhen. Mancher stolze Kauffahrer aus Akkatossa oder Pisca liegt dort unter den Wogen, mancher kühne Segler aus Chadashqarth fand dort mit zerschmettertem Bug sein kaltes Seemannsgrab, und die Zahl der Plukku, deren kleine, leichte Fellboote Borh wie totes Laub auseinanderstob, ist höher als die der Sterne am Himmel. Und doch ist der Zorn des mitleidslosen Herrn der Stürme ein freundliches Kinderlächeln gegen das schreckliche Sharkenthökk-Riff, das vor uns liegt ...“

      „Wuääääääh!“

      „Feine Gute-Nacht-Geschichte“, höhnte Orh. Er war noch etwas bleich um die Nase herum, doch schaffte er es inzwischen wieder, den Kopf oben zu halten. „Besser als meine Moglàt-Schlacht sind deine Schauermärchen ja wohl auch nicht.“

      „Ach, warte es ab“, meinte Sparrow ungerührt. „Sieh einmal, Varel, das Sharkenthökk-Riff, das sind rasiermesserscharfe Unterwasserfelsen. Nur höchstens eine Handbreit unter der Meeresoberfläche liegen sie, sodass kein Ausguck sie jemals entdecken kann. Wenn Borh der Nordwind und die hartherzige Meereskönigin Reene ein Schiff dort hineintreiben – wie eine Messerklinge durch Butter zerschneiden dann die Riffkanten die Schiffskiele, und die Seeleute sind unrettbar verloren. Große, graue Eishaie kreisen rund um die Felsen, und wer sein Leben nicht in den steinernen Messerklingen verliert, der wird von den Eisbestien lebendig verschlungen mit Haut und Haar. Dann kreisen sie rund um das Riff, und nur ihre stahlgrauen Rückenflossen durchschneiden die Wasserlinie. Und wenn die Bluternte für sie gut und reichlich ausgefallen ist, dann will man sie sogar singen gehört haben: ‚Danke, Mutter des Meeres, für die gute Mahlzeit!‘“

      „Wuääääääh!“