Petra Hartmann

Ein Prinz für Movenna


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Orh Jonoth war Soldat. Ein Soldat hat den Befehlen seines Heerführers zu gehorchen. Auch wenn es nur ein Tölpel mit Krone war. Wieder ballte er die Faust, ließ sie donnernd auf die Bordwand niederjagen, dass das Schiff erzitterte. Auch, wenn der Befehl lautete zu fliehen?, grübelte er grimmig. Auch, wenn der Befehl den Stolz und die Ehre des Kriegers in den Staub trat? Wäre es da nicht seine Pflicht gewesen, Fahnenflucht zu begehen und sich dem Heer voran in die erste Schlachtreihe zu stellen? Er wusste es nicht.

      Nur, dass er selbst, wenn er das Kommando gehabt hätte, die Schlacht nicht so hoffnungslos verloren hätte, das schien ihm sicher. Was sollte man auch von einem König halten, der im Angesicht des Feindes den Schlachtruf Surbolds vergaß? „Mir nach!“, hätte er brüllen sollen, sich selbst als erster den Scharen der Moglàt entgegenwerfen müssen. Doch dieser unreife Knabe, Angst hatte er bekommen, als die Ebene vor ihm schwarz wurde vom Heer der Moglàt. „Ihr Männer, voran!“, hatte er in der ersten Panik gebrüllt und hatte damit ein heilloses Chaos angerichtet. Die Gegner hatten ein leichtes Spiel mit den verwirrten Schlachtreihen Movennas. Doch da war er selbst schon auf der Flucht. Ein Bernländer auf der Flucht. Orh Jonoth, der sich aus der Schlacht davonstahl wie ein Knabe der Waldwohner. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Hätte er bleiben sollen?

      Der Riese starrte brütend vor sich ins Meer. Die Lachmöwe glitt durch flaches, klares Wasser, und unter sich konnte der Hüne den Meeresgrund erkennen. Eine bizarre Landschaft aus Korallen und lautlosen Algenwäldern breitete sich dort aus, über die der Schatten ihres Schiffes wie eine schwarze Wolke hinweg glitt. Dunkle, grüne Pflanzenwedel wogten dort unten auf und nieder, und der Akkatosser verfolgte mit den Augen eine gefleckte Muräne, die sich durch das Buschwerk des Meeres wand und davonglitt, lautlos wie eine der großen Sandkatzen des Festlands.

      Ein Schwarm von bunten Fischen blinkte im Schatten der Lachmöwe auf. In allen Regenbogenfarben glänzten ihre Schuppen, und Orh wurde fast fröhlich zumute, als er diese Komödianten des Meeres durcheinanderpurzeln sah. Doch plötzlich stoben die Tiere in wilder Flucht auseinander. Zurück blieb ein grauer, fast armlanger Raubfisch, der einen der Kleinen als Beute zwischen den Zähnen hielt. Mit einem raschen Flossenschlag tauchte er ab. Orh entdeckte erst jetzt in der Tiefe eine Gruppe in schimmernde Muschelpanzer gekleidete Gestalten. Hoch auf schlanken Delphinen ritten diese Meerleute, und einer, oder vielmehr eine von ihnen, machte eine knappe Geste mit der Hand. Sofort sank der graue Räuber wie ein gelehriger Falke auf den Arm der zierlichen Seeprinzessin nieder und warf ihr seine Beute in den Schoß.

      Und weiter huschte der Schatten der Lachmöwe über den Meeresgrund. Orh sah Felder und Wälder, und dort, tatsächlich, da breitete sich unter ihm ein kleines Städtchen aus mit zierlichen rotgedeckten Dächern und Kuppeln aus grünschimmerndem Kupfer wie in seiner bernländischen Heimat. Rotberockte Meermädchen schritten mit geflochtenen Körben unter dem Arm zum Markt, und junge See-Männer glitten stolz auf dem Rücken ihrer Delphine durch die Straßen. Vierspännige Kutschen rollten über die Hauptstraße, und dort, das junge Mädchen mit dem Strauß Korallen in der Hand, das war wohl auf dem Weg zu seinem Liebsten. Als der Schatten des Seglers sich über das Städtchen legte, blickten die Menschen nach oben. Viele lachten freundlich und winkten. Doch als das Mädchen den Kopf hob, da standen Tränen in seinen Augen.

      „Rieke“, flüsterte Orh, als er das bleiche Gesicht erkannte.

      Ein freudiger Glanz breitete sich über das Gesicht des Mädchens. Rieke öffnete die Arme, und Orh flog seiner Geliebten entgegen ...

      „Großer, bist du verrückt geworden!“ Eine kleine braune Faust umklammerte seinen Fußknöchel wie ein Schraubstock. Schnell sprang Löwener herbei und half dem Schiffsjungen, Orh zurück an Bord zu hieven. „Nur ein Gaukelspiel Reenes“, meinte der Steuermann knapp. „Hütet Euch vor den Künsten der Meeralten.“

      Orh Jonoth nickte. „Danke“, sagte er. Und doch wünschte er, die beiden hätten ihn nicht gerettet.

      Goldauge

      Windstille. Missmutig stapfte Orh Jonoth an Deck der Lachmöwe auf und ab. Die Planken dröhnten dumpf unter dem Gewicht des bernländischen Riesen, der noch immer den schweren, dunklen Schuppenpanzer trug, als gelte es, in eine Schlacht zu ziehen. Schon seit zwei Tagen dümpelte der flachbordige Segler bereits auf der fast unbewegten See vor sich hin, und ein Ende der Flaute war nicht abzusehen. Die Segel hingen wie schlaffe Gespenster im unbewölkten Winterhimmel, und selbst als Kapitän Harrod den Befehl gegeben hatte, das Tuch zu befeuchten, damit nur ja kein noch so leichter Windzug durch die Poren des Leinengewebes entkommen konnte, selbst da hatte sich dort oben nichts geregt. Sicher, die Ruderer hatten sich anfangs noch tüchtig in die Riemen gelegt. Aber selbst der zähe Löwener hatte irgendwann nicht mehr weiter gekonnt, und Harrod hatte eine Pause geboten.

      Zornig ballte Orh die Faust. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Riese hätte die schwere Doppelaxt aus dem Gürtel gezogen und vor lauter Ärger den Mast niedergehauen. Und nur das eine war an der ganzen Lage noch erfreulich zu nennen, dass nämlich der Säugling, der ihm die ganze Nacht über die Ohren vollgeplärrt hatte, endlich verstummt war. Sparrow, der Schiffsjunge, hatte für Varelian aus einem alten Wasserfass eine provisorische Wiege gebaut und am Großbaum aufgehängt, und da pendelte der junge Kronprinz nun zwischen Luft und Meer und war augenscheinlich eingeschlafen. Gut so. Wenn nun noch Wind käme ...

      Einzig Sparrow schien gut gelaunt zu sein. Leise pfeifend schlenderte er auf Orh zu und grinste ihn an. „Hey, Großer, wenn du nichts zu tun hast, könntest du mir eigentlich helfen.“

      Der Bernländer knurrte unwillig, zuckte dann jedoch die Achseln. „Warum nicht?“ Er folgte dem Jungen zum Bug der Lachmöwe, wo im Abstand von einer Armeslänge an der Reling einige Stricke verknotet waren, deren anderes Ende ins Wasser hing.

      Orh hatte am Morgen beobachtet, wie der Schiffsjunge hier ein halbes Dutzend Krüge über Bord geworfen hatte. Warum, das hatte er nicht fragen wollen. Wortlos sah er zu, wie Sparrow die Leine einholte. Mit schnellen, gleichmäßigen Bewegungen schoss er das Tau auf, ohne den Blick von der Wasseroberfläche zu wenden. In langen, sauberen Buchten hing die Leine über seiner linken Hand, während die Rechte sie Windung um Windung herumführte. Ein letzter Ruck, und der bauchige Tonkrug durchbrach die Wasserfläche.

      „Jetzt drück die Daumen, Großer“, rief Sparrow aus. Er hievte das Gefäß mit beiden Händen über die Reling. Wasser triefte heraus und klatschte aufs Deck, doch Sparrow ließ sich nicht abschrecken. Beherzt griff er in die dunkle Öffnung hinein, und sofort breitete sich ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. „Ja, da ist einer drin.“

      Orh beugte sich neugierig über den Krug, fuhr jedoch zurück, als ein langer, dünner Tentakel aus der Öffnung herausglitschte. Sparrow zog die Hand zurück und hielt sie dem Riesen unter die Nase. Eine faustgroße, gummiartige Masse lag dort auf seiner Handfläche, acht Arme wanden sich schlangengleich in einem wild auf und ab zuckenden Knäuel. Doch was den Riesen am meisten entsetzte, war der Blick der starr auf ihn gerichteten Augen.

      „Was – was ist das?“, fragte er mit schlecht gespielter Gleichmütigkeit und trat von einem Fuß auf den anderen. Die Augen des Tieres folgten jeder seiner Bewegungen, und fast hatte er das Gefühl, dass ihm aus den talergroßen, leicht hervorgewölbten Goldscheiben eine fremdartige Intelligenz entgegenblickte, die bis auf den Grund seiner Seele hinabschaute. Wie hypnotisiert starrte er in die schwarzen, spaltförmigen Pupillen, ein tiefer, senkrechter Graben, hinter dem irgendwo ...

      „Großer, träumst du?“ Sparrow lachte. „Hast wohl noch nie einen Kraken gesehen, wie?“

      Er schüttelte den rotbraunen Klumpen in seiner Hand, um den das Schlangennest der Tentakeln noch immer auf und ab wogte.

      Orh fuhr zusammen. Entsetzt sog der Riese die Luft ein. Sparrow beugte sich mit dem Kopf über das Tier und biss zu, spuckte dann in hohem Bogen eines der Goldaugen über die Reling. Der Krake krümmte sich zusammen, dann erschlafften seine Arme, hingen wie nasse Stricke von Sparrows Hand herab. Die zuvor kräftige, rotbräunliche Färbung verblasste. Wo eben noch das rechte Auge den Riesen angestarrt hatte, trat Blut aus, eine wässrige, leicht bläulich schimmernde