Petra Hartmann

Ein Prinz für Movenna


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„Du musst dir keine Sorgen machen. Er hat nicht lange leiden müssen. Und heute Abend kannst du dich auf ’ne echte Delikatesse freuen.“

      Der Riese nickte stumm. Als Sparrow die nächste Leine einholte, wandte er den Kopf ab. Er sah aus dem Augenwinkel, wie ein Tonkrug die Wasseroberfläche durchbrach. Er betete zu allen seinen Göttern, dass ...

      „Wäääääh!“

      Wütendes, forderndes Babygebrüll ließ die Lachmöwe erzittern.

      „Weor sei Dank“, glaubte Sparrow den Riesen sagen zu hören. Als er aufblickte, war Orh bereits vom Bug verschwunden und hatte sich über die Wiege gebeugt, um den Kleinen zu trösten.

      Goldauge II

      Ein markerschütternder Schrei gellte über das Deck der Lachmöwe. Orh schoss in die Höhe und hatte bereits im Sprung sein Schwert gezogen. Die breite Klinge beschrieb einen Halbbogen und blieb vibrierend auf Höhe des Großbaums in der Luft stehen. Breitbeinig stand der Hüne vor dem weinenden Säugling, bereit, jedem Angreifer den Schädel zu spalten, der sich dem Prinzen nähern würde. Dann sah Orh das Untier.

      Ein fast oberschenkelstarker Tentakel glitschte über das Deck auf ihn zu. Orh sprang zur Seite und hechtete über die Wiege Varelians hinweg. Im Abrollen umschlang er das Kind mit dem linken Arm, kam wieder auf die Füße und riss das Schwert hoch. Die Waffe sirrte durch die Luft, kappte die Spitze des gummiartigen Kampfarms und richtete sich erneut auf die dunkelbraune Schlange, die sich auf ihn zu wand. Hoch über ihm schrie Sparrow um Hilfe. Der Schiffsjunge hing von einem Tentakel umklammert in der Luft, in der Hand noch immer den Tonkrug, den er als Krakenfalle ausgelegt hatte. Orh hieb wie ein Besessener auf die Arme der Seebestie ein, die nun in immer dichter fallenden Hieben über die Lachmöwe heran glitschten.

      Neben ihm tauchte Löwener auf. In wahrer Berserkerwut ging er mit der Axt auf die baumdicken Tentakeln los, und wo seine Hiebe fehlgingen, blieben tiefe Kerben in den Planken zurück.

      Wieder schnellte einer der zuckenden Schlangenarme heran. Orh, von dem zappelnden Kind behindert, strauchelte, stürzte. Das Schwert wurde ihm von einem Tentakel aus der Hand geprellt und ins Meer geschleudert, als wüsste die Tiefseekreatur ganz genau, welche Gefahr von dieser Waffe ausging. Schlangengleich glitt ein weiterer Tentakel heran, umschlang das Knie des Riesen und hob ihn mit fast spielerischer Mühelosigkeit in die Höhe. Mit dem Kopf nach unten hängend, umklammerte Orh noch immer das Kind, während das Deck der Lachmöwe in schwindelerregende Tiefen unter ihm zurücksank.

      „Hilfe! Hilfe!“, schrie der verzweifelte Sparrow noch immer. Aus dem Augenwinkel sah Orh den Schiffsjungen an sich vorbeifliegen. Dem Maul der Bestie zu. Mit fliegenden Fingern nestelte der Riese an seinem Gürtel herum. Die schwere Streitaxt ruckte aus der Schlaufe und fuhr in den zähen Krakenarm, wieder und wieder. Vergebens. Wie tausend Blutegel hatten sich die furchtbaren Saugnäpfe in die Wade des Bernländers verbissen. Schmatzend saugten sie das Blut aus ihm heraus. Jetzt senkte sich der Tentakel wieder zur Meeresfläche hinab. Als sich der mächtige Krakenarm krümmte, tauchte unter ihnen das gigantische Maul des Seeungeheuers auf. Ein gewaltiger Hornschnabel klappte mit wütendem Schaben auf und zu – eine Schere, die alles zermalmen würde, was sich ihr näherte. Über ihm wimmerte Sparrow. Langsam, unaufhaltbar senkte sich der Tentakel. Kopfunter schwebte Orh über dem Abgrund. Mit wilder Verbissenheit hieb er noch immer auf den Krakenarm ein. Dichter und dichter trieb er die Kerben in die zähe Masse, die von der Klinge doch kaum Schaden zu nehmen schien. Da, endlich! Ein dünner Blutstrahl rann aus dem Spalt, wässriges, durchsichtiges Krakenblut tropfte herab auf das Gesicht des Akkatossers und hinterließ einen metallischen Geschmack auf seiner Zunge. Wieder hieb er zu, und noch einmal.

      Da schwang der Arm herum. Vor dem Riesen tauchte ein gewaltiges Auge auf. Eine goldene, leicht nach außen gewölbte Scheibe, die fast die Größe eines Bernländers hatte. Der senkrechte, schwarze Pupillenspalt richtete sich auf den schwebenden Krieger. Fast verwundert musterte das Tier den winzigen Menschling, der sich dem Unausweichlichen mit solch verzweifelter Kraft entgegenstemmte. Wieder hieb Orh auf den Arm ein. Das Tier schien keinen Schmerz zu spüren, obwohl sich zu dem ersten noch ein weiterer Blutstrom gesellt hatte. Eine schier unendliche Anzahl an Fangarmen wogte unter dem Bernländer im Wasser. Schaudernd erwiderte Orh den Blick des Tieres, aus dem Neugier und die unendliche Rätselhaftigkeit des Ozeans zu ihm sprachen, dann schlug er zu, ein letztes Mal, durchtrennte den Arm und stürzte aus gut zwei Mannslängen Höhe auf den Kopf des Ungeheuers. Mit Macht schleuderte er die Axt ins Meer, dann sprang er über den wild schnappenden Hornschnabel hinweg und grub seine Zähne tief in den goldenen Augapfel des Tieres hinein. Dann schwanden ihm die Sinne.

      Als er wieder zu sich kam, waren Sparrow und Löwener gerade dabei, ihm die schwere Eisenrüstung abzunehmen. Orh schob ihre Hände nachdrücklich beiseite.

      „Wo ist ...?“, fragte er und spuckte einen Schwall aus Blut und Salzwasser aus.

      „Dem kleinen Hosenscheißer geht es gut“, versicherte Sparrow. „Aber du wärest beinahe ertrunken, wenn wir dich nicht rechtzeitig aus dem Wasser gezogen hätten. Zum Glück ist es hier nicht tief.“

      Orh blickte auf Kapitän Harrod, der, nur mit seiner Unterhose bekleidet, in der eisigen Winterkälte neben ihm stand. „Danke“, sagte er zu dem Seemann, der den Sprung in die Tiefe gewagt hatte.

      „So einen Kampf habe ich noch nie gesehen“, flüsterte der Schiffsjunge ehrfürchtig. „Dass jemand einem Riesenkraken einfach so ein Auge ausbeißt ...“

      „Ach“, brummte Orh und rappelte sich mühsam auf. „Die Fischer vom Sharkenthökk-Riff machen das immer so. Mach dir keine Gedanken, er hat nicht lange leiden müssen.“

      Wulfrics Schwert

      Ein eisiger Windstoß pfiff über das Deck der Lachmöwe. Doch Kapitän Harrod zögerte noch immer, die Segel zu setzen. Dort vorn am Bug stand unbewegt der Riese. Die Wolken, die um seine Stirn lagerten, waren noch dunkler als die Reste des schwarzen Schuppenpanzers, die wie ein nutzlos gewordenes Spielzeug über Brust und Schultern des Bernländers hingen. Orh Jonoth starrte vor sich ins Wasser, und fast schien es, als habe er alles um sich herum vergessen. Das Meer war hier kaum einige Faden tief, und doch – unerreichbar weit dort unten, irgendwo auf dem dunklen Krakengrund, verloren, auf ewig versunken ruhte das Schlachtschwert des Bernländers.

      Harrod wusste um die enge Bindung, die zwischen manchen Kriegern und ihren Schwertern bestand. Die Klingen trugen klangvolle Namen, beinahe jede hatte ihre eigene Legende, und man erzählte sich wahre Wunderdinge von ihnen. Manchmal hatte er verwegene Söldner an Bord gehabt, raue Kerle, die sich vor nichts und niemand fürchteten, aber wenn sie allein an Deck saßen und sich unbeobachtet glaubten, dann flüsterten sie leise und zärtlich mit ihrer Klinge wie ein kleines Mädchen, das mit seiner Puppe spielte. Wie er selbst, wenn er mit der Lachmöwe redete, dachte Harrod. Und nun lag Orhs Waffe auf dem Meeresgrund. Und der Held stand am Bug, finster und brütend wie ein massiger schwarzer Todesgott, und starrte ins Wasser.

      „Orh?“

      Der Riese reagierte nicht. Erst als Harrod hinter ihn trat und ihm die Hand auf die Schulter legte, hob der Mann aus Akkatossa den Kopf, starrte den Kapitän aus blutunterlaufenen Augen an. „Orh, wir müssen Segel setzen“, sagte Harrod. „Wer weiß, ob wir noch lange den günstigen Wind ausnutzen können.“

      Als Harrod den Befehl zum Segelsetzen gab, stand der Hüne noch immer mit glasigem Blick an der Reling, die Augen auf irgendeinen, nicht einmal für ihn selbst erkennbaren Punkt unter der von tausend kleinen eisgrauen Wellenrissen verkratzten Spiegelfläche des Meeres gerichtet. Einen winzigen, dunklen Punkt, der unbarmherzig kleiner wurde, bis er schließlich ganz verschwand. Ein Punkt, der ein Schwert war. Wulfrics Schwert.

      Endlich stapfte Orh hinüber zum Mast und setzte sich eine halbe Armeslänge von der schaukelnden Wiege Varelians nieder. Mit der Hand stupste er gedankenverloren das kleine Holzfässchen an und brachte es zum Hin- und Herschwanken. Der Prinz schrie nicht. Doch gab der Säugling auch keine Geräusche