Sandra Grauer

Schattenspiel - Der zweite Teil der Schattenwächter-Saga


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      Uns hatte bisher zum Glück noch niemand entdeckt. Ich sah kurz hinter mich. Über unserer Tür stand Palenque, México. Dort befanden sich in diesem Moment haufenweise Schattenwächter, und das schienen die Schatten zu wissen. Kein Schatten, der halbwegs bei Verstand war, würde in dieser Nacht das Portal in die Maya-Stadt benutzen. Hier waren wir erst einmal sicher, aber wie lange noch? Früher oder später würde man uns auch hier entdecken.

      Ich warf einen Blick auf das Portal nach Heidelberg. Auch dort drängte sich Schatten an Schatten. Ohne Frage wären die Portale in die Maya-Städte und das nach England am sichersten. Aber wir mussten nach Heidelberg, und zwar so schnell wie möglich.

      »Es sind tatsächlich alle Portale offen«, flüsterte Joshua uns in diesem Moment zu. »Das ist eine Invasion. Wie haben die das nur geschafft?«

      »Darüber können wir uns später Gedanken machen, erst mal müssen wir hier raus.«

      »Und wie sollen wir das machen?«, fragte ich leise. Ich konnte die Angst in meiner Stimme hören. »Die Schatten werden uns sicher nicht freiwillig Platz machen, oder?«

      »Darauf kannst du wetten«, meinte Gabriel.

      Er warf mir einen kurzen Blick zu, und obwohl er nichts sagte, wusste ich, was er dachte. Dir wird nichts geschehen, dafür sorge ich. Noch immer hielt er meine Hand, wofür ich ihm sehr dankbar war.

      Wir betrachteten unbeachtet die Szenerie und überlegten: Wie sollten wir nur lebend quer durch die Halle zum Portal nach Heidelberg kommen? Die Schatten griffen die anderen Schattenwächter von allen Seiten an. Uns würden sie auch angreifen. Ich hatte gehofft, sie würden uns einfach durchlassen und keine Notiz von uns nehmen, doch die Schatten stellten sich lieber dem Tod, als auch nur einen Schattenwächter durch eines der Portale zu lassen.

      Die Schattenwächter konnten sich nur mit Mühe verteidigen. Ich hielt jedes Mal unbewusst die Luft an, wenn ein Schatten einen Wächter mit seinen gefährlichen Händen erwischte. Aus eigener Erfahrung wusste ich, wie schmerzhaft es war, wenn man die Hände zu spüren bekam. Joshua hatte sie mal mit Papier verglichen, doch in Wirklichkeit war ein Papierschnitt nichts dagegen. Jedes Mal durchfuhr einen ein brennender Schmerz, und es dauerte Tage, bis die Schnittwunde wieder verheilte.

      In diesem Moment sah ich, wie gleich mehrere Schatten auf einmal ein Schattenwächter-Team umzingelten und die zwei jungen Männer sofort attackierten. Sie wollten durch das Portal nach New York, doch die Schatten ließen ihnen keine Chance. Die Schattenwächter verteidigten sich mit Fackeln und Inflammatoren, aber sie konnten bei Weitem nicht alle Schatten verbrennen. Einer nutzte eine Lücke und traf den Mann mit den dunkleren Haaren am linken Arm. Der Mann ließ seine Fackel fallen und verzog vor Schmerz das Gesicht. Ich sah den Riss im Pulloverärmel. Der helle Stoff färbte sich rundherum rot. Blut tropfte auf den Boden. Erschrocken schnappte ich nach Luft.

      Der Mann hatte nur noch seinen Inflammator, doch die Schatten ließen nicht von ihm ab. Ganz im Gegenteil, nun griffen sie ihn verstärkt an. Der zweite Mann erkannte die Gefahr. Er versuchte, sich zu seinem Partner vorzuarbeiten, aber die Schatten stellten sich ihm in den Weg. Und dann war es zu spät. Ein Schatten traf den ersten Mann mit seiner Hand direkt am Hals. Die Augen des Mannes weiteten sich, ob vor Schmerz oder Schreck wusste ich nicht. Stoßweise schoss das Blut mit jedem Herzschlag aus der Wunde hervor und tränkte seinen hellen Pullover tiefrot. Völlig unfähig mich zu bewegen, starrte ich einfach nur auf den Mann. Ich sah gerade noch, wie er auf seine Knie fiel und hörte den Schrei des zweiten Mannes, als Gabriel mich in seine Arme zog und meinen Kopf an seine Brust drückte.

      »Nicht hinsehen«, sagte er leise.

      Ich zitterte am ganzen Körper, und Tränen schossen mir in die Augen. »Wir müssen ihm helfen«, schluchzte ich an Gabriels Brust.

      Sanft fuhr er mir übers Haar. »Es ist zu spät, wir können nichts mehr tun.« An Gabriels Stimme erkannte ich, dass ihn das Ganze ebenso mitnahm wie mich.

      Ich schluckte. Warum hatten wir nicht eingegriffen? Wir hatten den Schattenwächter einfach sterben lassen. Aber hatten wir wirklich eine Wahl gehabt? Hätten wir ihm helfen können oder wären wir jetzt auch tot? Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich wusste, dass die Kämpfe mit den Schatten gefährlich waren, aber zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie gefährlich sie wirklich waren. Ich hatte nie daran gedacht, dass einer von uns sterben könnte.

      »Wir müssen hier raus«, hörte ich Joshua neben uns. Auch seine Stimme klang belegt.

      Gabriel nickte. »Okay, wir machen's Rücken an Rücken.« Er löste sich von mir, griff aber nach meiner Hand. »Wir drehen uns im Kreis auf den Portalausgang zu, damit wir alle Seiten im Blick haben. Linksrum, linker Fuß zuerst. Nehmt Fackel und Inflammator in jeweils eine Hand. Und seid vorsichtig, dass ihr nicht stolpert und hinfallt. Das könnte böse enden.« Nun sah er mich kurz an. »Geht's?«

      Ich schluckte und nickte, während ich mich zu beruhigen versuchte. Es war, wie Joshua und Gabriel gesagt hatten: Wenn wir überleben wollten, mussten wir hier raus. Früher oder später würden die Schatten uns entdecken, und dann würde es noch gefährlicher werden, als es ohnehin schon war. Nun schob Gabriel mich schräg hinter sich und ließ meine Hand los. Ich hätte seine gerne weiterhin gehalten, denn so gab er mir wenigstens ansatzweise das Gefühl von Sicherheit. Doch das ging nicht. Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Hände zitterten. Während ich mein Schwert in meinen Gürtel steckte und Fackel und Inflammator vor mir ausstreckte, wie Gabriel es gesagt hatte, spürte ich die beiden auf einmal ganz nah hinter mir.

      »Los«, rief Gabriel nun.

      Wie auf Kommando begann mein Herz noch schneller zu schlagen. Vorsichtig setzte ich immer einen Fuß neben den anderen und schwang dabei die Fackel durch die Luft. Ich sah, wie der Schattenwächter mit den dunklen Haaren reglos am Boden lag, und mir wurde schlecht. Seinen Partner konnte ich nirgends entdecken. Ich hoffte nur, dass er es heil durch das Portal geschafft hatte, und konzentrierte mich wieder auf unser Vorhaben.

      Langsam bewegten wir uns Rücken an Rücken auf das Portal zur Thingstätte zu. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber die Schatten wichen tatsächlich vor uns zurück. Mir war nicht klar warum, und ich hatte auch keine Zeit, um darüber nachzudenken. Trotzdem gelang es mir, mehrere Schatten zu verbrennen, und ich verspürte so etwas wie Genugtuung. Ich sah mich kaum um, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass uns alle anstarrten. Sowohl die Schatten als auch die anderen Schattenwächter. Vermutlich fanden sie es seltsam, dass wir zu dritt waren, und außerdem war ich ja ein Mädchen. Das sorgte nach wie vor für Aufregung.

      Als wir endlich das offene Portal zur Thingstätte erreichten, atmete ich erleichtert auf. Wir sprangen den letzten Schritt und wurden in einen dunklen Strudel gezogen. Mich überkam ein grässliches Gefühl. Wie auf einer Achterbahn, wenn es wieder nach unten geht. Innerhalb einer Sekunde war alles vorbei, und wir standen mitten auf dem großen Platz der Thingstätte. Eisige Kälte und Dunkelheit empfingen uns. Ich konnte gerade noch sehen, dass es geschneit hatte, bevor uns die Schatten angriffen.

      Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen, trotzdem war ich überrascht. Sie kamen von allen Seiten auf uns zu und zögerten nicht lange. Wie in der Walpurgisnacht brandeten auf einmal laute Geräusche auf, und ich wünschte mir nicht zum ersten Mal, die Schatten nicht hören zu müssen. Mir blieb keine Zeit, mich zu konzentrieren, um die Geräusche gänzlich auszuschalten. Ich holte tief Luft und stürzte mich in den Kampf, indem ich mit Fackel und Inflammator um mich schlug. Ein Schatten nach dem anderen fing Feuer, und das Rauschen in den Ohren wurde lauter. Es ebbte nicht ab, auch wenn ich mal einige Sekunden lang keinen Schatten vernichtete. Solange weiterhin Schatten starben, waren Gabriel und Joshua noch am Leben.

      An diesen Gedanken klammerte ich mich, denn sehen konnte ich die beiden nicht. Ich wollte es nicht riskieren, mich zu ihnen umzudrehen. Es waren so viele Schatten, dass wir es uns nicht leisten konnten, auch nur den Bruchteil einer Sekunde unaufmerksam zu sein. Ich spürte aber, dass die beiden weiterhin ganz nah bei mir standen. Beide atmeten schnell, und auch mein Herz schlug wie wild. Schweiß lief mir das Gesicht hinunter. Ich hatte Angst. Es waren einfach zu viele Schatten. Was, wenn wir sie nicht bezwingen konnten? Ich wollte nicht sterben wie der Schattenwächter mit den