Sandra Grauer

Schattenspiel - Der zweite Teil der Schattenwächter-Saga


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antwortete Gabriel. »Ich versteh das nicht, was hat das alles zu bedeuten?«

      »Lasst uns erst mal nach Hause gehen und dann dem Rat Bescheid geben. Hier oben können wir vorerst nichts mehr tun.«

      Gabriel stimmte ihm, wenn auch widerwillig zu, und wir machten uns auf den Weg in die Innenstadt. Von unterwegs aus rief Gabriel uns ein Taxi, das in der Bergstraße auf uns warten sollte.

      Bei der Witterung und dem ganzen Schnee war der Abstieg ziemlich mühsam, und ich trug auch nicht die passenden Schuhe. Mehr als einmal stolperte ich, und ich wäre sicherlich hingefallen, hätten mich Joshua oder Gabriel nicht jedes Mal in letzter Sekunde gehalten. Einen Vorteil hatte das Ganze aber: Mir war nicht mehr ganz so kalt, und ich konzentrierte mich so auf den Weg unter meinen Füßen, dass ich kaum noch an die schrecklichen Erlebnisse denken musste, die wir nun vorerst gemeinsam mit der Thingstätte hinter uns ließen.

      Die Stimme des Nachrichtensprechers war bis in den Flur zu hören, als wir die Wohnung im Schloss-Wolfsbrunnenweg betraten. Es roch vertraut, als wir zielstrebig ins Wohnzimmer gingen. Gabriels und Joshuas Mutter saß auf dem Sofa, eine gelbe Tasse in der Hand. Der Fernseher lief, und im Kamin prasselte ein warmes Feuer. Am liebsten hätte ich mich auf den Teppich davor gesetzt. Es wirkte so einladend, und mir war immer noch kalt. Überhaupt hatte die Szenerie auf den ersten Blick etwas ungemein Gemütliches an sich, doch das täuschte. Wenn man genauer hinsah, erkannte man die Wahrheit. Frau Lennert sah nervös aus. Sie starrte auf den Fernseher und nahm gar nicht wahr, dass wir da waren. Ihre Hände zitterten, sodass sie mit Sicherheit etwas verschüttet hätte, wäre die Tasse voller gewesen. Ihre Aufmerksamkeit galt einer Nachrichtensendung.

      »… kommt es auch in den USA in New York zu Ausschreitungen«, sagte der Nachrichtensprecher in diesem Moment. »Damit sind weltweit bereits sechs Städte betroffen. Die Gründe für die Ausschreitungen sind noch unbekannt, offizielle Stellungnahmen seitens der Regierungen gibt es bisher nicht. Unklar ist auch, ob Zusammenhänge zwischen den Ausschreitungen bestehen.« Der Mann legte eine kleine Karte beiseite, von der er bis jetzt abgelesen hatte, und sah direkt in die Kamera. »Und nun zum Wetter.«

      Ich spürte, wie auch ich unruhig wurde. Es ging also bereits los, die Schatten verbreiteten Chaos. Wie wohl die Lage hier in Heidelberg war? Zumindest schien es bisher noch relativ ruhig zu sein, ansonsten hätte der Nachrichtensprecher sicher etwas gesagt. Aber das konnte sich jederzeit ändern. Ich musste unbedingt meine Mutter und Hannah anrufen und sie warnen.

      Frau Lennert stellte ihre Tasse auf den Tisch und griff nach der Fernbedienung. Erst jetzt bemerkte sie uns. Die Fernbedienung rutschte ihr aus der Hand, lautlos landete sie auf dem Teppich. »Mein Gott, ihr habt mich vielleicht erschreckt«, sagte sie und griff sich ans Herz. »Was macht ihr hier?«

      Joshua ging zu seiner Mutter, hob die Fernbedienung auf und schaltete den Fernseher aus. Dann sah er sie einen Moment schweigend an, während Gabriel und ich im Türrahmen stehen blieben.

      Frau Lennert sah von Joshua zu uns und wieder zurück. Nun wirkte sie noch nervöser als zuvor. »Es ist etwas passiert, oder? Warum seid ihr nicht in Mexiko?«

      Joshua setzte sich neben seine Mutter auf das Sofa. »Ich weiß nicht, wie ich's dir schonend beibringen soll, also sag ich's einfach gradeheraus. Heute Nacht haben sich alle Portale der Welt gleichzeitig geöffnet.«

      Sie wurde bleich. »Aber … warum?«

      »Das wissen wir nicht. Klar ist nur, dass die Schatten zu Zehntausenden durch die unbewachten Portale in unsere Welt übertreten konnten.«

      Frau Lennert sah Joshua einen Moment sprachlos an, dann trat Entsetzen in ihren Gesichtsausdruck. »Oh mein Gott, Noah war in der Nähe der Thingstätte. Wenn ihm nun etwas passiert ist.« Joshua und Gabriel tauschten einen unauffälligen Blick, doch Frau Lennert entging er nicht. »Ihr wisst, was mit ihm ist, oder?«, fragte sie fast etwas atemlos und sah von einem Sohn zum anderen. »Wo ist er? Es geht ihm doch gut?« Ihre Stimme klang hektisch.

      Gabriel ging nun ebenfalls zu seiner Mutter und setzte sich auf ihre andere Seite. »Wir wissen es nicht«, antwortete er ruhig und legte eine Hand auf ihren Arm.

      Er erzählte ihr, was genau in den letzten zwei Stunden geschehen war. Seine Mutter riss sich zusammen, doch schließlich verlor sie jegliche Kontrolle. Sie begann zu weinen und legte ihren Kopf an Joshuas Schulter. Ich fühlte mich schrecklich. Nicht nur, weil ich mir vorstellen konnte, wie es ihr in diesem Moment ging. Nein, ich kam mir vor wie ein Eindringling in ihre Privatsphäre. Und das war ich wirklich. Noch nie hatte ich Gabriels und Joshuas Mutter so gesehen, so verletzlich. Ich hatte bisher nie viel mit ihr zu tun gehabt und wenn, dann hatte sie einen kühlen Eindruck auf mich gemacht. Ich hatte sie nicht sonderlich gemocht und mich schon mehrmals gefragt, was Noah überhaupt an ihr fand. Schuldgefühle überkamen mich bei der Erinnerung daran. Wie ein Liebespaar waren die beiden mir nie vorgekommen, aber scheinbar hatte ich mich gründlich getäuscht.

      Unwohl trat ich von einem Fuß auf den anderen. Was sollte ich jetzt machen? Ich hätte den dreien gerne ein wenig Zeit für sich gegeben, aber das war schließlich nicht mein Zuhause. Ich konnte doch nicht einfach in Gabriels oder Joshuas Zimmer gehen und dort warten, oder? Aber schließlich tat ich genau das. Ich ging in Gabriels Zimmer und stellte mich vor die Heizung. Einen Moment blickte ich mich um. Das Zimmer sah genauso aus wie immer, was irgendwie merkwürdig war. Schließlich war nichts wie immer.

      Seufzend holte ich mein Handy aus meiner Hosentasche und wählte die Nummer meiner Mutter. Ich wusste, dass sie auf der Arbeit war, aber sie nahm bereits nach dem zweiten Klingeln ab.

      »Emmalyn, schön, dass du anrufst. Ist alles in Ordnung?«

      Ich wollte sie nicht anlügen, aber ich wusste, dass ich ihr auch nicht die ganze Wahrheit sagen konnte. »Ja, soweit ist alles gut. Hast du heut schon Nachrichten gesehen?«

      »Ich bin noch nicht dazu gekommen. Warum fragst du?«

      Ich holte tief Luft, bevor ich antwortete. »Die Menschen spielen verrückt, es gibt überall auf der Welt Ausschreitungen. In Deutschland ist bisher noch alles ruhig, aber es wird auch hier passieren. Hier in Heidelberg. Bitte sei vorsichtig, Mama. Am besten, du und Mark bleibt über die Feiertage zu Hause. Es soll ohnehin viel Schnee geben.« Das hatte ich vorhin noch mit halbem Ohr mitbekommen, bevor Joshua den Fernseher ausgeschaltet hatte.

      »Was redest du denn da, Emmalyn?«

      »Bitte vertrau mir, Mama. Ich will nicht, dass euch was passiert. Kauf einfach genug zu essen ein, und dann bleibt bitte zu Hause.«

      »Na schön«, antwortete sie etwas gedehnt.

      Ich war nicht sicher, ob sie wirklich auf mich hören würde, und das versetzte mir einen Stich. Wenn ihnen etwas zustoßen würde …

      »Was ist mit dir?«, fragte meine Mutter nun.

      Die Frage musste früher oder später kommen, und ich hatte mich darauf vorbereitet. Dennoch war es nicht leicht, meine Mutter anlügen zu müssen. »Ich befürchte, dass ich hier vorerst nicht wegkomme. Alle Flughäfen in der näheren Umgebung wurden gesperrt. In Mexiko ist es bisher zwar auch noch ruhig, aber die Regierung will kein Risiko eingehen.«

      »Dann wirst du über Weihnachten nicht zu Hause sein?« Die Stimme meiner Mutter klang leise.

      »So wie es im Moment aussieht, nein. Es tut mir leid, Mama. Du kannst mir glauben, wie gern ich bei euch sein würde. Du fehlst mir und Mark auch.« Ich seufzte. Es stimmte, sie fehlten mir wirklich. Ich war noch nie über Weihnachten weg gewesen, doch es ging nicht anders. Wir mussten Noah finden, und wenn ich jetzt nach Hause gegangen wäre, hätte ich keine Chance gehabt, Gabriel und Joshua zu helfen.

      »Emmalyn, du fehlst uns auch. Bitte pass auf dich auf.«

      »Das mach ich und ihr auch. Versprich mir das. Bitte Mama, es ist wichtig. Ich muss wissen, dass ihr in Sicherheit seid.«

      »Ist ja gut, ich versprech es dir«, sagte sie nach einer kurzen Pause.

      Und dieses Mal wusste ich, dass sie es ernst meinte. Erleichtert atmete ich aus. »Ich meld mich wieder bei dir, wenn ich was