Sandra Grauer

Schattenspiel - Der zweite Teil der Schattenwächter-Saga


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Meinetwegen dürfte die ganze Welt wissen, dass wir zusammen sind, aber ich will's Joshua schonend beibringen. Es ist im Moment schon schwer genug für ihn, und ich will's ihm nicht noch schwerer machen. Verstehst du das?«

      Gabriel griff nach meinen Händen und trat einen Schritt näher an mich heran. »Natürlich versteh ich das, er ist immerhin mein Bruder.« Er seufzte. »Aber es wird mir schwer fallen, weiterhin so zu tun, als seien wir nicht zusammen. Verdammt, ich kann jetzt schon meine Hände kaum von dir lassen.«

      Nun seufzte auch ich. »Das kann ich so gut nachvollziehen. Aber es ist halt kompliziert.«

      Gabriel beugte sich zu mir herunter und küsste mich noch einmal. Dann wandte er sich wieder der Tür zu. Bevor er jedoch die Klinke nach unten drückte, drehte er seinen Kopf noch einmal zu mir um. »Aber sieh zu, dass Joshua die Griffel von dir lässt, denn das werd ich mir definitiv nicht länger mit ansehen.«

      Ich musste lächeln. »Keine Angst, ich werd schon dafür sorgen, dass er seine Hände bei sich behält.«

      Vorerst bestand keine Gefahr, dass Joshua mir zu nahe kommen würde. Er wollte Lilly unter einem Vorwand zusammen mit Marlene frühzeitig von der Schule abholen. Ich saß währenddessen neben Gabriel in seinem Auto und war auf dem Weg zu mir nach Hause. Kurz zuvor hatte ich noch mit Mark telefoniert, um mich zu vergewissern, dass noch niemand dort war. Die Tatsache, dass das Haus in diesem Moment wirklich leer stand, weckte gemischte Gefühle in mir. Ich brauchte dringend frische Kleidung, auch wenn Marlene mir erst einmal eine Jacke geliehen hatte. Und nicht auszudenken, wenn ich zufällig meiner Mutter oder meinem Bruder in die Arme gelaufen wäre … andererseits hätte ich mich besser gefühlt, wenn ich die beiden sicher zu Hause gewusst hätte. Aber Mark hatte mir auch noch einmal versprochen, dass er und Mama über die Feiertage daheim bleiben würden.

      Ich seufzte, woraufhin Gabriel kurz nach meiner Hand griff und mir einen langen Blick zuwarf. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

      »Ist halt alles nicht so einfach im Moment. Ich wünschte, wir hätten das Ganze schon hinter uns.«

      »Ich auch, aber wir werden das schon irgendwie hinkriegen.«

      Ich nickte und warf einen Blick aus dem Fenster. Es war immer noch früher Vormittag, aber die Wolken hingen tief am Himmel und ließen keinen einzigen Sonnenstrahl hindurch. Alles war weiß, auch wenn es in diesem Moment nicht schneite. Es würde aber wieder anfangen, da war ich mir sicher. Zum einen roch es nach Schnee, zum anderen waren die Wolken voll davon. Ich verspürte den Drang schon wieder zu seufzen, doch dieses Mal riss ich mich zusammen.

      Bis Heiligabend waren es nur noch wenige Tage, und es sah ganz so aus, als ob wir in diesem Jahr endlich mal wieder weiße Weihnachten bekommen würden. Wie schön wäre es jetzt gewesen, Plätzchen zu backen und Weihnachtslieder zu singen. Es sich mit einer Tasse heißer Schokolade und einem Buch gemütlich zu machen, einen schönen Weihnachtsfilm anzuschauen oder einfach nur die Weihnachtsbeleuchtung und den Schnee anzusehen. Stattdessen standen wir einer Katastrophe gegenüber, ohne eine Lösung parat zu haben und mussten uns obendrein auch noch um Noah Sorgen machen.

      Ich wandte meinen Blick Gabriel zu und fühlte für den Bruchteil einer Sekunde einen wohligen Schauer über meinen Rücken laufen. Wenigstens war das zwischen uns endlich geklärt. Wir hatten einander, aber da gab es ja auch noch Joshua. Er tat mir unendlich leid, denn ich wusste, wie weh wir ihm tun würden. Es würde nicht leicht werden, so zu tun, als ob Gabriel und ich kein Paar wären, und es würde noch härter werden, Joshua die Wahrheit zu sagen. Deshalb war ich gar nicht so traurig darüber, dass ich dieses unangenehme Gespräch noch etwas schieben konnte.

      Gabriel bog in die Wundtstraße ein und parkte direkt am Anfang der Straße. Wir mussten vorsichtig sein, damit wir niemand Bekanntem über den Weg liefen. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn uns ein Nachbar sehen würde. Wir zogen beide die Kapuzen unserer Jacken über den Kopf und schafften es zum Glück unbeachtet ins Haus.

      »Zieh die Schuhe aus«, sagte ich zu Gabriel, während ich selbst meine durchweichten Turnschuhe abstreifte. Wir durften auf keinen Fall irgendwelche Spuren hinterlassen.

      »Nur die Schuhe?«, fragte Gabriel grinsend.

      Ich rollte mit den Augen. »Richtiger Ort, falscher Zeitpunkt.«

      Obwohl wir wussten, dass niemand da war, schlichen wir auf Zehenspitzen nach oben in mein Zimmer. Es war seltsam, hier zu sein. Fast wäre ich mir in meiner eigenen Wohnung wie ein Einbrecher vorgekommen.

      Gabriel wartete, während ich die Tasche, die er mir geliehen hatte, mit meinen Sachen füllte. Meine Mutter respektierte meine Privatsphäre und ging schon lange nicht mehr an meinen Kleiderschrank. Daher konnte ich aus den Schränken einpacken, was ich wollte, es würde ihr nicht auffallen. Bei allem anderen musste ich jedoch vorsichtig sein. Schließlich hatte ich alles Wichtige beisammen und blieb vor meinem Bücherregal stehen. Ich starrte eine Weile auf meine Bücher, bis ich Gabriel in meinem Rücken spürte.

      »Du überlegst jetzt nicht ernsthaft, ob du ein Buch einpacken sollst!«

      Ich schüttelte den Kopf, auch wenn ich theoretisch gerne eines mitgenommen hätte. Ich liebte meine Bücher, sie gaben mir ein Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit. Seufzend drehte ich mich zu Gabriel um. Ich würde ohnehin keine Zeit zum Lesen haben.

      Gabriel trat einen Schritt näher an mich heran und legte seine Hände auf meine Arme. »Du kannst dir jederzeit ein Buch von mir nehmen«, sagte er. »Allerdings glaub ich kaum, dass wir viel lesen werden.« Er beugte sich zu mir herunter und hauchte mir einen zarten, kaum spürbaren Kuss auf die Lippen.

      Ich verspürte eine Gänsehaut, auch wenn Gabriel meinen Mund kaum berührte. Einen Moment sahen wir uns an, und mein Herz begann, schneller zu schlagen. Dann riss er mich in seine Arme, und wir küssten uns stürmisch. Ohne uns voneinander zu lösen, landeten wir auf dem Bett. Mein Kopf sagte mir, dass ich Wichtigeres zu tun hatte, als mit Gabriel zu knutschen, aber mein Herz weigerte sich, auf meinen Verstand zu hören. Wie gerne hätte ich mich mit Gabriel in meinem Zimmer verkrochen und wäre erst wieder herausgekommen, nachdem alles vorüber war. Gabriel schaffte es, dass ich mir nicht immerzu Sorgen machte. Wenn er mich küsste, so wie jetzt, dann gab es nur uns beide.

      Ich vergaß völlig, wo wir waren und Gabriel ebenso. Er rollte sich auf mich und zerwühlte mein Haar, während ich seine Jacke und alle Schichten darunter ein Stückchen nach oben schob und mit meiner Hand über seinen nackten, warmen Rücken fuhr. Erst als wir ein Auto vor dem Haus hörten, hielten wir inne. Etwas atemlos und beschämt sahen wir einander an, dann sprang Gabriel auf und ging hinüber zum Fenster. Währenddessen stand auch ich auf und strich mir Haare und Kleidung glatt.

      »Weder deine Mutter noch dein Bruder«, sagte Gabriel, als er sich zu mir umdrehte. »Aber wir sollten wahrscheinlich trotzdem besser von hier verschwinden.«

      Ich nickte etwas verlegen und machte mich daran, die Bettwäsche wieder zu glätten. Anschließend schlichen wir genauso leise aus dem Haus, wie wir gekommen waren.

      Gabriel parkte das Auto in der Bergheimer Straße, und wir liefen den Rest zu Fuß in die Innenstadt. Ich brauchte noch einige Dinge, unter anderem Sachen aus der Drogerie, die ich zu Hause nicht mehr vorrätig hatte oder bei denen es aufgefallen wäre, wenn ich sie mitgenommen hätte. Außerdem wollten wir einen Blick auf das Treiben in der Innenstadt werfen. Im Radio war bisher nichts Auffälliges durchgesagt worden, aber manchmal dauerte es ja auch, bis sich solche Nachrichten verbreiteten.

      Am Bismarckplatz zog ich Gabriel in die Drogerie, nahm mir ein Einkaufskörbchen und lief schnell durch die Gänge, um meine Sachen zusammenzusuchen. Am Regal mit den Probiergrößen griff ich wahllos nach einem Shampoo und Duschgel und drehte mich wieder zu Gabriel um, der mir seinen Kopf hastig zuwandte.

      »Alles okay?« Noch während ich fragte, fiel mein Blick auf das Regal gegenüber. Es war das Regal mit den Kondomen. »Oh.«

      »Was denn?«, erwiderte Gabriel betont locker und steckte die Hände in seine Hosentaschen.

      Ich musterte ihn einen Augenblick. »Ach komm, ich dachte, wir sind jetzt zusammen.«