Sandra Grauer

Schattenspiel - Der zweite Teil der Schattenwächter-Saga


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diesem Moment hörten wir die Haustür ins Schloss fallen. Erwin bellte, und Lilly lachte über etwas. Für einen kurzen Moment wünschte ich mir, auch so unbeschwert sein zu können und mir keine Sorgen machen zu müssen.

      Marlene sprang erschrocken auf. »Ich will nicht, dass Lilly das sieht.« Sie deutete mit dem Kopf auf Gabriels verletzten Arm. »Sie würde nur Fragen stellen.«

      Ich nickte und nahm ihr das Verbandszeug ab. »Ich mach das schon.«

      »Danke.« Sie schenkte mir ein kleines Lächeln, stand auf und verschwand Richtung Flur. »Da ist ja meine Kleine«, hörte ich sie sagen. Ihre Stimme klang fröhlich, und ich bewunderte sie für die Tapferkeit, die sie ihrer Tochter gegenüber an den Tag legte. »Brrr, deine Wangen sind ja ganz kalt. Was hältst du davon, wenn wir uns allen eine heiße Schokolade machen?«

      »Au ja«, rief Lilly begeistert.

      »Joshua, holst du deinem Bruder bitte noch einen frischen Pullover? Seiner ist ganz nass vom Schnee.«

      »Mach ich«, antwortete Joshua, dann wurde es still im Flur.

      Gabriel und ich sahen uns einen Moment an. »Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist«, sagte ich leise und lehnte meinen Kopf für einen kurzen Augenblick an seine Schulter.

      »Und ich erst. Jetzt, wo ich dich endlich hab, geb ich dich so schnell nicht mehr her.«

      In seinem Blick lag so viel Zärtlichkeit, als er mich ansah, dass mein Herz vor Freude schneller schlug. Mit der Hand seines unverletzten Arms fuhr er mir durch die Haare und zog meinen Kopf noch näher zu sich. Es war unvernünftig, ihn hier und jetzt zu küssen, das wusste ich. Schließlich konnte Joshua jeden Moment ins Wohnzimmer kommen. Doch ich konnte einfach nicht anders, als dem Verlangen nachzugeben. Es war so schön, seine Lippen auf meinen zu spüren und spendete mir wenigstens ein kleines bisschen Trost.

      Als wir Schritte im Flur hörten, lösten wir uns schnell voneinander, und ich wandte mich seiner Fleischwunde zu, um sie zu verbinden. Joshua betrat das Wohnzimmer, einen grünen Pullover von Gabriel in der Hand schwenkend.

      »Geht's dir gut?«, fragte er mit einem Blick auf seinen Bruder.

      Der nickte. »Danke, geht schon.«

      Joshua legte den Pullover auf den Couchtisch und setzte sich in den Sessel, der rechts von unserem Sofa stand. »Und wie ist die Lage in der Stadt?«

      »Es geht allmählich los, die Einwirkung der Schatten ist deutlich zu spüren. Nicht mehr lange, und das Chaos bricht aus.«

      Joshua nickte. »Das hab ich befürchtet. Und was machen wir nun? Auf Schattenjagd gehen, nach Vater suchen?« Er sah von seinem Bruder zu mir und wieder zurück.

      »Erst mal müssen wir rausfinden, wo Vater überhaupt ist. Es bringt doch nichts, einfach drauf los zu suchen. Er könnte überall sein.«

      Ich senkte den Kopf. »Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder, die Schatten haben ihn oder …« Ich verstummte. Oder war keine Alternative. Noah durfte nicht tot sein.

      Gabriel und Joshua schwiegen eine Weile. Ich wusste, dass sie dasselbe dachten wie ich. »Aber warum sollten die Schatten Noah entführen, verschleppen oder sonst was?«, fragte Joshua schließlich. »Er sitzt im Rat, okay, aber was haben sie davon?«

      Er sah mich an, und ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es doch auch nicht.«

      »Okay, gehen wir davon aus, die Schatten haben ihn tatsächlich«, überlegte Gabriel. »Wo ist er dann jetzt?« Wir beide sahen uns an. »In der Schattenwelt«, sagten wir nach einem Moment fast gleichzeitig.

      »In der Schattenwelt? Meint ihr wirklich? Aber warum? Wie kann er ihnen nützen, wenn …?« Joshua brach ab und fuhr sich mit einer verzweifelten Geste durch die Haare.

      »Keine Ahnung, aber wo soll er sonst sein? Die Wahrscheinlichkeit, dass die Schatten ihn in unserer Welt gefangen halten, ist sehr gering. Das weißt du genauso gut wie ich.« Gabriel sah nicht minder verzweifelt aus.

      Ganz sanft berührte ich seinen Rücken, sodass Joshua es nicht sehen konnte. Gabriel warf mir ein dankbares Lächeln zu. »Lasst uns nachher noch einmal zur Thingstätte fahren und die Gegend absuchen«, schlug ich vor. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass Noah dort noch irgendwo ist, aber wir sollten nichts unversucht lassen.«

      Joshua nickte. »Das ist eine gute Idee. Und falls wir dort keine Spuren von ihm finden, sollten wir den Rat vielleicht noch einmal fragen, was sie von unserer Theorie halten.«

      Gabriel schüttelte den Kopf. »Das bringt doch nichts, und bis morgen will ich nicht warten und untätig rumsitzen.«

      »Dann willst du morgen nicht zum Rat gehen?«, fragte ich.

      »Doch, aber ich will mich nicht auf den Rat verlassen. Wir müssen heute so viele Infos wie möglich sammeln und Vorbereitungen treffen, damit es morgen nach dem Treffen gleich losgehen kann.«

      »Losgehen?« Ich schluckte. »Heißt das … heißt das, du willst in die Schattenwelt, wenn wir Noah bis dahin nicht gefunden haben?«

      Es sah fast gleichgültig aus, als Gabriel mit den Schultern zuckte, aber ich spürte, dass dem nicht so war. »Wenn es sein muss. Ich werde Vater nicht im Stich lassen und alles tun, um ihn zu finden. Seid ihr dabei?«

      Joshua und ich nickten. »Aber wir sollten vorher herausfinden, was uns überhaupt in der Schattenwelt erwartet.« Von meinen Theoriestunden mit Joshua wusste ich, dass die Brüder auch keine Ahnung hatten. Noah konnten wir nicht fragen, und ob Marlene Bescheid wusste? Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich in Bezug auf sie irrte. »Was ist mit eurer Mutter? Ob Noah mit ihr über die Schattenwelt gesprochen hat?«

      Joshua schüttelte den Kopf. »Sie weiß so gut wie alles, aber nicht, wie es in der Schattenwelt aussieht. Den Rat können wir auch nicht fragen.«

      »Wir fragen Wilhelm«, sagte Gabriel mit entschlossener Miene. »Er wird uns helfen.«

      Ich nickte. Wilhelm Neuberg würde uns sicher helfen, und als ehemaliger Schattenwächter und ehemaliges Ratsmitglied hatte er bestimmt wertvolle Informationen für uns. Ich konnte mich noch sehr gut an ihn erinnern. Im vergangenen Frühling war er zwei Tage verschollen gewesen und von einem Beta-Schatten beschattet worden. Gabriel und ich hatten ihn befreit. Das war mein zweiter Einsatz als Schattenwächterin gewesen und schien schon eine Ewigkeit her zu sein. »Aber was machen wir, wenn er im Ratsgebäude ist?« In Gedanken schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel. Bitte lass ihn zu Hause sein.

      »Mach dir keinen Kopf«, sagte Joshua. »Wilhelm und seine Frau Else sind sehr gute Freunde unserer Eltern. Noah wird ihnen wichtiger sein als irgendwelche Anweisungen vom Rat.«

      »Er sieht vielleicht nicht so aus«, fuhr Gabriel fort, »aber Wilhelm hält auch nicht so viel von den antiquierten Regeln des Rats.«

      Ich musste lächeln. Wilhelm hatte damals den Eindruck eines zerstreuten Professors auf mich gemacht, aber er war sehr nett gewesen. »Also gut, was machen wir zuerst? Thingstätte oder Wilhelm?«

      »Wir fahren zuerst zu Wilhelm«, meinte Joshua, und sein Bruder nickte. »Vielleicht hat er noch ein paar Tipps, die uns auf der Thingstätte nützlich sein können.«

      »Dann mal los«, sagte Gabriel, als wir plötzlich Stimmen im Flur hörten.

      Schnell reichte ich Gabriel den sauberen Pullover zum Anziehen und schob seinen blutigen Pullover sowie den Verbandskasten gerade noch rechtzeitig unters Sofa. Erwin kam ins Wohnzimmer geflitzt, dicht gefolgt von Marlene und Lilly. Marlene trug ein Tablett mit fünf dampfenden Tassen, während Lilly eine Keksdose mit winterlichem Motiv in den Händen hielt. Sie stellten beides auf den Tisch und setzten sich zu uns.

      »Alles in Ordnung?«, fragte Marlene an Gabriel gewandt.

      Der nickte knapp. »Wir wollten zu Wilhelm und ihn um Rat fragen, bevor wir zur Thingstätte fahren und uns dort noch mal umschauen.«

      »Das ist eine gute Idee, aber